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Unsere Delegation zum West Belfast Festival -
Berichte und Eindrücke der Teilnehmer und Teilnehmerinnen

- August 2004 -

Seit 1988 verwandelt sich das irisch-republikanische West Belfast jedes Jahr in der ersten Augustwoche in eine bunte Mischung aus Stadtviertelfesten, internationalem Kultur- und Musikprogramm mit Künstlern aus aller Welt und politischen Veranstaltungen zur Konfliktlösung im eigenen Land und international.
Das West Belfast Festival ist ein durch und durch politisches Festival, das den Prozess der Konfliktlösung unterstützt und dem Staatsterror in Nordirland und weltweit mit viel Selbstbewusstsein den Kampf angesagt hat. Es ist ein Erbe der Bürgerrechtsbewegung, die im Apartheid-Staat Nordirland Ende der 60er Jahre für Bürgerrechtsforderungen und Menschenrechte auf die Strasse ging: für gleiches Wahlrecht, für ein Ende der Diskriminierung bei Arbeits- und Wohnungssuche, für Gerechtigkeit und Menschenwürde.

(aus unserer Einladung zur Teilnahme an der Delegation)

Die Delegation, das waren diesmal acht Leute, darunter einige langjährige Mitglieder der deutschen Irlandsolidarität, die den Friedensprozess in Irland durch Aufklärung in Deutschland unterstützt. Andere waren das erste Mal in Nordirland und in Belfast. Die letzten beiden Tage schlossen sich unserer Delegation drei japanische Studentinnen aus Tokio an, zeitweise eine italienische Journalistin. Wie immer gab es auch gemeinsame Aktivitäten und das ein oder andere private Pint mit der englischen Delegation des Troops Out Movement (TOM), mit dem wir seit Jahren zusammenarbeiten.

Sonntag, 1. August 2004 - abends

Mittlerweile sind alle in Belfast gut angekommen. Wir wohnen in B&Bs direkt in West Belfast, die grösste Gruppe unserer Delegation im Bereich "Lower Falls". Damit sind die Wege zu den Festival Events und nachts nach Hause relativ kurz.

>>>> Karte Westbelfast <<<<

Montag, 2. August 2004

Wir treffen uns im An Chulturlann , einem irischen Kulturzentrum an der Falls Road, der Hauptstrasse des irisch-republikanischen Teils von West Belfast, um das Programm der Woche abzustimmen. Es ist gar nicht so einfach, unsere individuellen Termine, die wir mit verschiedensten Gruppen vereinbart haben, und die Festival Events so abzustimmen, dass man nicht allzuviel verpasst. Aber alles geht sowieso nicht, das Festivalprogramm ist viel zu umfangreich und wir haben Stress ausgeschlossen.

>>>> Féile an Phobail - mit Online-Festivalprogramm <<<<

Am Nachmittag steht "Visiting Ardoyne" auf unserem Programm.

Wir besuchen das Ardoyne Women Centre. Mary und Colette empfangen uns im Community Centre, einem dringend sanierungsbedürftigen Altbau der 70er Jahre. Unten gibt es einen Allzweckraum, einen grossen Vorraum und einige kleine Büros, im ersten Stock, der nur auf einen Teil des Gebäudes aufgestockt ist, sind die klitzekleinen Büros des Women Centre. Kein Platz für ruhige Gespräche.

>>>> Claudia: "Besuch in Ardoyne" <<<<

Im Rahmen des Ardoyner Festivals "Ardoyne Fleadh", das ebenfalls im August stattfindet, wurde ein spannendes Projekt weitergeführt, in das ein grosser Teil des Viertels in irgendeiner Art und Weise involviert ist: "Ardoyne erzählt seine Geschichte selbst" könnte man es überschreiben. Ein Buch "Ardoyne - the untold truth" wurde im Rahmen des Projekts vor zwei Jahren veröffentlicht und dieses Jahr am 15. August eine zugehörige DVD vorgestellt.

>>>> Informationen über Buch und DVD mit einer kleinen Bilderreise durch die DVD finden Sie hier <<<<

Am Abend gab es eines der internationalen Highlights. Im Rahmen der 10. Frank Cahill Lecture, kam Arthur Scargill nach West Belfast. Als Chef der Kohlearbeitergewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM) führte er 1984 den legendären Streik der Miners gegen Thatcher und ihre anti-Gewerkschaftliche Politik. Vor einem bis zum Bersten vollen Saal mit mehreren Hundert Zuhörern berichtete Arthur Scargill über den Streik, die Dämonisierung der Miners durch die britischen Medien und die Auswirkungen des Streiks.

Die West Belfaster Zeitung Andersontown News berichtet über die Veranstaltung:

>>>> "Den Streik durchzuführen war der eigentliche Sieg" (in englischer Sprache) <<<<

Dienstag, 3. August 2004

Wir treffen Sean Pol O'Hare, einen der Sprecher der Springfield Road Residents, zum Thema Oranier-Paraden. Unter den Tausenden von Paraden sind nur einige umstritten. Es handelt sich dabei um Paraden, an denen sich pro-britische, unionistische Paramilitärs der UVF oder UDA beteiligen, oft in UDA oder UVF-T-Shirts und die durch irische Viertel gehen. Oranierorden und Paramilitärs eint ein militanter anti-katholischer und anti-irischer Rassismus. Noch immer werden katholische und irische Viertel von pro-britischen Terrorgruppen attackiert.

Die Paradenkommission, die Oraniermärsche verbieten kann, ist in erster Linie dazu da, die Märsche möglich zu machen, sagt Sean. Darum spielt sich jedes Jahr ein bizarres Spiel ab: eine der Grundvoraussetzungen für die Genehmigung einer Parade ist der Dialog mit den Anwohnern. Genau diesen Dialog lehnen die Oranierorden ab, die sich aus Prinzip weigern, mit katholischen Anwohnern überhaupt zu reden. Deswegen lautet die Devise der Oranier, so auszusehen, als ob man zum Dialog bereit wäre. Das wertet die Paradenkommission dann meist als ausreichend.

Sean erzählt, dass die Oranierloge auf die vielen Aufforderungen zum Dialog, die ihnen die Anwohner der Springfield Road schickten, erst reagierten, als ihr diesjähriger Marsch verboten wurde. Sie schickten einen Unterhändler, weigerten sich aber, dessen Verhandlungsergebnisse zu aktzeptieren.

Am Nachmittag trafen wir Robert Mc Clenaghan, den Sprecher der Gruppe An Fhirinne. Mehrere hundert Mitglieder betroffener Familien haben sich irlandweit zusammengetan, um die Zusammenarbeit britischer staatlicher Stellen mit pro-britischen Todesschwadronen anzuklagen und Aufklärung und ein Ende dieser kriminellen Aktivitäten zu fordern. "Collusion" nennt man diese Zusammenarbeit, die durch höchste britische Regierungskreise unterstützt war. Für jede einzelne dieser Familien bedeutet Collusion den Mord an einem Familienmitglied.

Wir nehmen uns vor, diese Kampagne von Deutschland aus weiter zu unterstützen:

Abends besuchten wir verschiedene Veranstaltungen des Festivals.

>>>> Claudia: "Die Damien Walsh Lecture" <<<<

Mittwoch, 4. August 2004

Am Mittwoch treffen wir Steven Corr vom Falls Community Council. Der Falls Community Council versteht sich als Anlaufstelle für Individuen und Gruppen in Westbelfast zu sozialen und gesellschaftlichen Problemen. U.a. beschäftigt er sich mit politischer Analyse des Zeitgeschehens. Ein wichtigstes Thema ist auch hier der Friedensprozess und die im Karfreitagsabkommen beschlossene demokratische Umgestaltung des verfilzten und undemokratischen nordirischen Machtapparats in seinen verschiedensten Ausprägungen, sei es Polizei, Justiz oder das Regierungszentrum Northern Ireland Office (NIO). Das NIO ist nicht gewählt, seine Entscheidungsgrundlage ist eine Mixtur aus Geheimdienstberichten und politischen Vorgaben der britischen Regierung und es ist in keiner Weise den Bürgern, die es regiert, rechenschaftspflichtig.

An jenem 4. August 2004 gab ein Thema besonderen Anlass zur Sorge: der erste Bericht der IMC, der ausserhalb des Karfreitagsabkommens gegründeten "Independent Monitoring Commission". Steven erzählt uns, dass der ersten Bericht dieser Kommission alle Community groups in Alarmbereitschaft versetzt hat. Der Bericht empfahl, den Gruppen finanzielle Mittel zu entziehen, wenn sie nicht beweisen könnten, dass keine Paramilitärs in ihren Reihen seien.

Wer die nordirischen Verhältnisse kennt, weiss, dass dies ein Freibrief für Willkür ist und die Community groups fürchten zurecht, dass damit politisch unliebsame Gruppen schnell ausgegrenzt werden könnten. Die IMC besteht aus 4 Personen, einem ehemaligen Mitglied der pro-britischen Alliance Partei, Lord Alderdice, einem ehemaligen britischen Polizeioffizier, einem ehemaligen CIA Offizier und einem von der irischen Regierung benannten Mitglied. Wie unabhängig die Ergebnisse sind, die die Komission produziert, kann man sich leicht vorstellen. Was kommt wohl dabei heraus, wenn die Vier auf Grundlage der ihnen vorgelegten Geheimdienstberichte Gespräche mit verschiedenen Gruppen führen und dann einen Bericht schreiben. Die irischen Community groups haben in einem ersten Schritt beschlossen, nicht mit dem IMC zusammenzuarbeiten und nicht für Gespräche zur Verfügung zu stehen.

13.00 Wir haben uns für die Bustour "West Belfast Murals and Interfaces" angemeldet, die von Coiste na n'Iarchimi, der Dachorganisation der republikanischen ehemaligen Gefangenen, im Rahmen des Projekts Irish Political Tours durchgeführt wird. Jim Mc Veigh führt die Tour. Jim war der letzte OC (Officer Commanding) der republikanischen Gefangenen im Gefängnis Long Kesh, bevor im Juli 2000 als Folge des Karfreitagsabkommens alle politischen Gefangenen freigelassen wurden.

Ein Reporter der Andersonstown News, der die Bustour bereits am Montag mitgemacht hat, beschreibt die Eindrücke:

>>>> Andersonstown News: "The wheels on the bus go round and round the sites of our policital history (e)" <<<<

Am 15. August 2004 war der 35. Jahrestag der Pogrome von 1969, bei denen Bombay Street komplett niedergebrannt wurde.

>>>> Uschi: "Bombay Street - der Memorial Garden" <<<<

Donnerstag, 5. August 2004

Am Donnerstag wurden wir international. Drei japanische Wissenschaftlerinnen aus Tokio begleiteten uns zum Shankill Stress and Trauma Centre Am Nachmittag schloss sich unserer Gruppe noch eine italienische Journalistin an, die wir von früheren Besuchen in Belfast kennen.

Mina Wardle, die Direktorin des Centre zeigt uns das Haus und erzählte über ihr Konzept, für traumatisierte Menschen Anlaufstelle zu sein und ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich kreativ weiterzuentwicklen, um ihnen damit zu helfen, eine andere Perspektive auf ihre Probleme und ihr Leben zu ermöglichen. Mitarbeiter des Hauses sind Katholiken und Protestanten. Loyalistische Paramilitärs hatten versucht, damit Stimmung gegen das Haus zu machen. Sie scheiterten an der resoluten Direktorin. Patienten kommen aus verschiedenen Problemfeldern: aus Erfahrung von privater Gewalt, als Opfer des politischen Konflikts und in letzter Zeit verstärkt aus dem jüngsten lokalen Konflikt im Bezirk Shankill, der blutigen Fehde zwischen den verfeindeten loyalistischen (pro-britischen) Paramilitärs UVF (Ulster Volunteer Force) und UDA (Ulster Defence Association). Die Fehde hat den loyalistischen Shankill District im Jahr 2001 ins Mark getroffen. Hunderte Familien wurden aus ihren Häusern vertrieben, es gab Tote und die Taxifahrer der UVF machten wochenlang lieber den Umweg über die republikanische Falls Road, als aus der Innenstadt durch das von der UDA beherrschte Territorium Lower Shankill zu fahren.

Loyalistische Paramilitärs, vor allem die der UDA wurden während des Konflikts von den Briten quasi als Hilfstruppen benutzt. Sie machten die Drecksarbeit und mordeten, die Briten besorgten Waffen und Informationen und hatten ihre Agenten überall an den Schaltstellen der UDA. Mittlerweile weiss man beispielsweise, dass praktisch alle, die 1989 am Mord an Rechtsanwalt Pat Finucane beteiligt waren, britische Agenten waren. "Collusion" nennt man diese Zusammenarbeit. Details hierzu finden Sie auf der Webseite:

>>>> Collusion = staatliche Auftragsmorde <<<<

Im Gegenzug hierzu durfte die UDA in ihren Vierteln schalten und walten. Mit Drogengeschäften, Schutzgeldern und anderen kriminellen Aktivitäten halten sie die loyalistischen Arbeiterviertel im Würgegriff. Aber die Zeiten ändern sich. Weitgehend unbemerkt von den Medien existieren seit Jahrzehnten übergreifende Netzwerke, vor allem der Frauengruppen. Aus den irischen Vierteln, in denen Selbstbewusstsein und Bildung gross ist, und die über Jahrzehnte des Konflikts gelernt haben, Probleme anzupacken, kommt Unterstützung durch Hilfe zur Selbsthilfe.

Des weiteren bröckelt auch das Feinbild. Die Menschen in den loyalistischen Vierteln beobachten, wie ihre Politiker der UUP und DUP gerne Einladungen auf Veranstaltungen wie z.B. das West Belfast Festival annehmen. Tags zuvor hatte die Veranstaltung "West Belfast Talks Back" den radikalen Anti-Republikaner Jeffrey Donaldson zu Gast, der vor einem Publikum mitten im republikanischen West Belfast mit dem ehemaligen IRA Mann Seanna Walsh diskutierte. Die Veranstaltung war am Donnerstag Gesprächsthema auf der Shankill Road. Eine ähnliche offene Diskussion mit republikanischen Politikern wäre hier nicht möglich. Aber als wir im Anschluss an das Gepräch mit Mina die Shankill Road hinunterspazierten, kam uns die Atmosphäre dort so entspannt vor, wie schon lange nicht mehr. Als wir in einem lokalen Kaffee eine kleine Pause einlegten, kamen wir mit Anwohnern ins Gespräch über das "Festival auf der anderen Seite". Sie fragten uns ausgiebig aus, ob die Leute dort nett zu uns seien, ob wir in unseren B&Bs gut untergebracht sind und bestanden darauf, unsere Sandwiches zu bezahlen. Sie sagten, wir sollten uns auch hier wohlfühlen und seien jederzeit wieder willkommen.

Abends fuhren wir nach Nord Belfast. Im Rahmen des New Lodge Festivals war ein Musikevent angekündigt,den wir auf keinen Fall missen wollten:

>>>> Claudia: "International songs of struggle with Terry (Cruncher) O'Neill" <<<<

Freitag, 6. August 2004

Am letzten Freitag des Festivals öffnet traditionell der Felons Club, der soziale Verein ehemaliger republikanischer Gefangener seine Pforten zum "Prisoners day". Mit kleinen historischen Ausstellungen und kleineren Veranstaltungsschnipseln ist der Tag im Wesentlichen gedacht, um alte Bekannte zu treffen, im Felons bei einem Pint gemütlich zu plaudern.

>>>> Claudia: "Mal wieder zu spät ... prisoners day" <<<<

Samstag, 7. August 2004

Um 13.00 findet die jährliche P.J. Mc Grory Memorial Lecture im St. Mary’s University College statt. Die diesjährige Sprecherin ist Geraldine Finucane.
"Als vor 15 Jahren ihr Mann Pat ermordet wurde, wurde Geraldine Finucane ebenfalls angeschossen und verwundet. Dieses Jahr war die britische Regierung gezwungen, die Ergebnisse der Untersuchung des kanadischen Richters Peter Cory zu veröffentlichen, die der Frage von "Collusion", also der Verstrickung staatlicher britischer Stellen in den Mord an Pat Finucane nachging. Cory empfahl eine öffentliche Untersuchung des Mordes, was die britische Regierung verhindern möchte. Geraldine wird über den langen Kampf ihrer Familie berichten, die Wahrheit über den Mord an Pat herauszufinden."
(aus dem Ankündigung der Lecture im Festivalprogramm)
Der Saal war mit mehreren Hundert Menschen gepackt voll. "Collusion", die Zusammenarbeit von loyalistischen Killern mit staatlichen britischen Stellen ist eines der brisantesten Themen in der Aufarbeitung des Konflikts. Diese Zusammenarbeit hat vermutlich hunderte Menschen das Leben gekostet und war nach allem, was man heute weiss, bis in die höchsten britischen Regierungsstellen abgesegnet und bereits seit den 70er Jahren britische Politik.

>>>> Geraldine Finucane "Der lange Weg zur Wahrheit" <<<<

Last not least ...

... möchten wir uns mit den Reiseberichten ganz herzlich bei denen bedanken, die uns während der Woche Rede und Antwort standen.

Claudia und Uschi


Uschi Grandel, http://archiv.info-nordirland.de/, webmaster@info-nordirland.de