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"Einige Gedanken anlässlich des Besuchs des Ardoyne Women Centre,
des Torrens-Viertels und des Rathauses in Castlereagh"

Claudias Reisebericht

Paradoxer Weise wurde ich umso wütender über die Situation in Ardoyne, je länger der eigentliche Besuch zurück lag. Denn erst im Zusammenhang mit anderen Informationen oder im Vergleich zu anderen Plätzen zeichnet sich das ganze Bild.

Natürlich ist es auch im ersten Moment schockierend zu hören, dass trotz der regelmäßigen Auseinandersetzungen um Paraden der Orange Order mit Verletzten und erheblichen Sachschaden, sich noch nie ein Mitglied der Parades Commission, die diese Paraden ja schließlich genehmigt, sich auch nur ein einziges mal vor Ort in Ardoyne über die Situation informiert hat. Aber fast vom Stuhl gefallen bin ich, als ich 2 Tage später gehört habe, dass diese Herren - natürlich nur wenn es unumgänglich ist, um sich ein akkurates Bild zu machen - schon mal einen Trip nach Südafrika unternehmen können, um sich dort über den Stand des Friedensprozesses zu informieren. (Obwohl soviel Einsatz ja lobenswert ist, finde ich sie hätten doch mal lieber ihre werten Hintern nach Ardoyne schwingen sollen, selbst wenn da das Wetter nicht ganz so toll ist.)

Ganz ähnlich ging es mir in Bezug auf das Gebäude, in dem das Ardoyne Women Centre beheimatet ist. Es ist offensichtlich, dass es schwierig ist, Rat und Unterstützung zu bieten für Menschen, die Angehörige durch Selbstmord verloren haben, wenn der einzige Raum, der groß genug ist für eine Gruppe von 5 Leuten, der Eingangsbereich der Turnhalle ist. Aber in dem Moment war ich nur beeindruckt, wie die Frauen es trotzdem schaffen, mit Engagement am Ball zu bleiben und gute Arbeit zu leisten und habe nur gehofft, dass sich ihre räumliche Situation bald verbessert. Wütend bin ich erst geworden, als ich fünf Tage später im Sitzungssaal des Kreises Castlelereagh stand.

Links: das Ardoyne Community Centre
Rechts: das Rathaus in Castlereagh
der Bau wurde teilweise durch EU-Gelder finanziert.

Dieses ehrenamtliche Gremium tagt unter Kronleuchtern, die durch Bewegungsmelder bedient werden, an einem König-Artus-Ritter-der-Tafelrunde-Tisch mit eingebauten Computer mit Flachbildschirm und Mikrophonanlage. Und an den Wänden hängen Ölbilder von jedem einzelnen Mitglied. Und von der Queen natürlich. (Da zeigt sich der Sinn der Stadträte fürs Ökonomische, weil das Bild ja wenigstens nicht jede Sitzungsperiode neu gemalt werden muss.)

Genauso ging es mir mit der Wohnsituation in Ardoyne. Da ich ja nicht das erste mal in Belfast war, war es für mich gar nichts Neues, den Kontrast zu sehen zwischen den engen, kleinen wie Zinnsoldaten aufgereihten Häusern in Ardoyne und der lockeren mit viel Grünflächen belebten Bebauung auf der anderen Seite der "Peaceline". Auch das leidige Thema mit den endlos langen Wartelisten für Wohnungen und Häuser in katholischen Vierteln war mir bekannt. Schon aus eigener Beobachtung wusste ich, dass viele Häuser in protestantischen Gegenden verbarrikadiert sind und leer stehen, weil Protestanten, die es sich leisten können, lieber in schickere Vororte ziehen.

Links: eng zusammengequetscht stehen die kleinen Häuser in Ardoyne.
Rechts: Häuser in pro-britischen Vierteln sind grosszügiger gebaut,
auf dem Bild zu sehen ist das an Ardoyne angrenzende Viertel Glenbryn.

Mir war auch klar, dass die zurückgebliebenen Protestanten sich einerseits als soziale Versager in ihrer eigenen Gemeinschaft fühlen müssen und andererseits aber auch eine besondere Verpflichtung gegenüber ihrer Gemeinschaft fühlen, gerade unter diesen erschwerten Bedingungen die Fahne (im durchaus wörtlichen Sinne) hoch zu halten. Es ist beinahe logisch, dass sie es unter diesen Umständen eine zwingende Notwendigkeit betrachten, keinen Katholiken in "ihrem" Gebiet zu dulden, weil sie sich dann als Versager im doppelten Sinn fühlen müssten. Von da ist es dann tatsächlich nur noch ein kurzer Schritt bis man 5-jährige Mädchen auf dem Weg zur katholischen Holy Cross Vorschule als Bedrohung zu sieht und es daher für notwendig und angemessen hält sie mit Steinen, Kot und Rohrbomben zu bewerfen.

Das alles war mir schon irgendwie klar, aber mir war dennoch nicht bewusst, wie sehr staatliche Stellen tatsächlich aktiv mithelfen, gerade diese verquere Sicht der Dinge zu unterstützen. Das wurde mir erst so richtig deutlich, als wir uns ein paar Tage später das Torrens-Viertel angesehen haben. Eine Siedlung mit ca. 200 Häusern, etwa 500 Meter Luftlinie von Ardoyne entfernt und vollkommen leer bis auf 3 Familien und 1000 Union Jacks, die über jedes Haus, jeden Laternenpfahl und jeden Wasserhydranten verteilt worden sind. 200 vollkommen leere Häuser in fast direkter Sicht einer Siedlung, in der sich 7-köpfige Familien in Reihenhäusern mit 80 Quadratmetern quetschen! Aber niemand kann ins Torrens-Viertel ziehen, weil das "protestantisches Gebiet" ist und das städtische Wohnungsamt und die Polizei nicht den Willen haben, sich gegen die loyalistischen Paramilitärs, die diese Gegend kontrollieren, durchzusetzen. Mit einem der letzten Bewohner kamen wir ins Gespräch. Er meinte, dass auch er in wenigen Monaten wegzöge und dass dann die Stadt bald die ganze Siedlung abreißen werde. Dann ging er zurück in sein Haus und wir standen wieder allein auf dieser geisterhaften Straße, in der kein Geräusch zu hören war außer dem Knattern von Hunderten von blau-weiß-roten Fahnen.

Katholische Mieter unerwünscht -
Strassenzüge mit leeren, verbarrikadierten Häusern (rechts)
geben ein gespenstisches Bild - Fahnen pro-britischer, unionistischer
Paramilitärs markieren das Viertel. Über Jahre waren einige wenige Familien
die letzten Bewohner (links). Auch sie sind inzwischen weggezogen -
in neue Shankill-Bungalows.

Und obwohl es helllichter Nachmittag war und wir sonnige 25 Grad hatten, fröstelte mich, weil ich das Gefühl hatte, dem nackten Wahnsinn direkt ins Gesicht zu sehen....

....So, und nun ist mir aber doch völlig unklar, wie ich jetzt nach dem Satz noch die Kurve kriegen soll zu all den lustigen Dingen, die wir noch erlebt haben. Unvergesslich bleibt mir da der Abend, den wir im Shamrock, Ardoynes inoffiziellem Wohnzimmer, verbracht haben. Man hat einfach nicht gelebt, bis man die ultimative Elvis Presley-Imitation von einem klapprigen, zahnlosen Männchen, der aussieht, als hätte er seinen hundertsten Geburtstag irgendwann im letzten Jahrtausend gefeiert, gesehen hat!

Und das sind dann die Dinge, für Dir wir die Leute in Ardoyne auch wieder hemmungslos beneiden!