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Reiseberichte und Eindrücke vom West Belfast Festival 2007:
The Ballymurphy Eleven - die Elf aus Ballymurphy
Recollection and Acknowledgement - Erinnerung und Anerkennung. Gedenkveranstaltung zum 36. Jahrestag der
Einführung von Internierungen ohne Gerichtsverfahren in Nordirland
September 2007 | Antonia Modlmayr und Dominik Müller
Im Rahmen des diesjährigen West Belfast Festivals veranstaltete die West
Belfaster Organisation Relatives For Justice
am 7. August im St. Mary's University College an der Falls Road eine Gedenkveranstaltung zum 36.
Jahrestag der Einführung der "internment without trial" - Praxis.
Die britische Armee hatte nach verstärkten Unruhen im Sommer 1971 am
9.August 1971 mit der Inhaftierung von Personen ohne ordentliches Verfahren
begonnen.
Allein in Ballymurphy erschossen britische Soldaten
in drei Tagen elf Zivilisten
Innerhalb der ersten drei Tage nach Einführung dieser Praxis kamen im Gebiet
Ballymurphy oberhalb der Falls Road in West Belfast 11 Menschen - allesamt
unbewaffnet und zum Zeitpunkt ihres Todes in keiner Weise in
Auseinandersetzungen mit den britischen Sicherheitskräften verwickelt -
durch Schusswaffeneinsatz der britischen Armee ums Leben.
Die Angehörigen der Opfer warten seit 1971 darauf, dass die Umstände der
damaligen Todesschüsse endlich umfänglich aufgeklärt werden, bislang
vergeblich.
Mit der Veranstaltung im St.Mary's University College bot Relatives For
Justice Angehörigen und Freunden der Opfer ein Forum, um öffentlich über die
Ereignisse zwischen dem 9.und 11.August 1971 zu sprechen. Für viele der
Angehörigen stellte dies - 36 Jahre nach dem Tod ihrer Angehörigen - die
erste Gelegenheit dar, öffentlich über den Tod und die Todesumstände ihrer
Familienmitglieder und Freunde zu sprechen..
Im folgenden werden, basierend auf Augenzeugenberichten, die Ereignisse vom
9. bis 11. August 1971, die zum Tod der 11 Menschen in Ballymurphy geführt
haben, kurz geschildert:
Im Zuge des am 9. August 1971 eingeführten "internment without trial" wurden
zahlreiche Männer, Jugendliche, zum Teil auch Frauen und Mädchen, oft direkt
aus dem Bett heraus festgenommen und für Wochen, Monate, manchmal Jahre ohne
gerichtliches Verfahren inhaftiert. In vielen Fällen ging diese
Gefangenschaft einher mit brutaler Behandlung, Internierte hatten später oft
mit physischen und psychischen Langzeitschäden zu kämpfen.
Aufgrund der von den britischen Sicherheitskräften angewandten
Verhörmethoden, welche sich nahezu ausschließlich gegen den
irisch-republikanischen Teil der Bevölkerung richteten, wurde das Vereinigte
Königreich später von internationalen Gerichten wegen "erniedrigender und
unmenschlicher Behandlung" verurteilt.
Die irisch-katholische Bevölkerung reagierte auf die Einführung von Internierungen
zunehmend mit Widerstand, befand sich dabei aber zum Teil in
schwierigsten Situationen. In Stadtteilen wie Ballymurphy hatten die
Bewohner nicht nur die britische Armee gegen sich, sondern wurden außerdem
auch unmittelbar von loyalistischen Paramilitärs bedroht, die gerade in
Randbezirken wie Springfield Park an der Grenze zum benachbarten
protestantisch-loyalistischen Shankill versuchten, die Häuser der Bewohner
niederzubrennen. Befestigte "peace lines" in ihrer heute bekannten Form, die
den Bewohnern in den "interface"-Gebieten (wo katholische und
protestantische Stadtteile direkt aneinandergrenzen) einen zumindestens
eingeschränkten Schutz vor Übergriffen aus dem jeweiligen Nachbarstadtteil
boten, existierten 1971 noch nicht.
Am 9.August 1971, dem Tag der Einführung der "internment"-Praxis, begannen
viele Bewohner der Nachbarschaft Springfield Park aufgrund der über die
vergangenen Tage immer weiter angestiegenen Bedrohung durch loyalistische
Gruppen, sich in Sicherheit zu bringen. Die britische Armee war in der
unmittelbaren Nachbarschaft unter anderem in der Henry Taggert Kaserne
stationiert, es befanden sich entsprechend viele Soldaten in der Umgebung,
an diesem Tag unter anderem im Gebiet der Springmartin Flats im benachbarten
Shankill.
... erschossen, als er Deckung suchte ...
Irgendwann im Laufe der Evakuierungsbemühungen der Bewohner von Springfield
Park begann die britische Armee, aus dem Gebiet Springmartin Flats heraus
die Bewohner von Springfield Park unter Feuer zu nehmen.
Frank Quinn, Joan Connolly und John Laverty, drei von elf Zivilisten, die in Ballymurphy von britischen Soldaten
erschossen wurden.
Mehrere Menschen wurden von Kugeln getroffen, so unter anderem Bobby Clarke,
der gerade damit beschäftigt war, einige Kinder in Sicherheit zu bringen.
Nachdem Bobby Clarke angeschossen zu Boden gegangen war, näherte sich Father
Hugh Mullan dem verletzt am Boden liegenden Mann, um diesem zu helfen. Bei
diesem Rettungsversuch wurde er durch Kugeln in Brust und Rücken tödlich
getroffen.
Der daraufhin zu Hilfe eilende Frank Quinn wurde ebenfalls erschossen, als
er die beiden Männer erreichte.
Das britische Verteidigungsministerium und das Northern Ireland Office
teilten in ihren ersten Stellungnahmen mit, zwei bewaffnete Kämpfer seien
getötet worden.
Zur selben Zeit hatten sich in der Umgebung der nahegelegenen Henry Taggert
Kaserne an der Springfield Road einige Bewohner versammelt, die durch
Gerüchte über Schiessereien und Übergriffe von Loyalisten beunruhigt waren.
Ohne Vorwarnung wurde plötzlich aus der Kaserne automatisches Gewehrfeuer
eröffnet.
Der junge Noel Phillips wurde erschossen, als er nach Deckung suchte.
Die achtfache Mutter Joan Connolly hörte seinen Schrei und bewegte sich aus
ihrer Deckung, im ihm zu helfen. Als sie ihn erreichte und sich über ihn
beugte, wurde Joan Connolly durch einen Kopfschuss sowie drei weitere
Schüsse getötet.
Als daraufhin der Beschuss zunächst eingestellt wurde, versuchte der
vierzehnfache Vater Danny Taggart, sich aus seiner provisorischen
Deckungsposition auf dem Feld wegzubewegen. Er wurde sofort von mehreren
Kugel getroffen, der Beschuss hörte erst auf, als er sich tot stellte.
Joseph Murphy kroch nun aus seiner Deckung, um Joan Connolly und Noel
Philipps zu helfen, als ihn eine Kugel ins Bein traf.
Weitere Anwesende wurden durch Kugeln verwundet, bis schließlich ein
Fahrzeug die Kaserne verließ, aber statt der erwarteten medizinischen Hilfe
sprangen Soldaten aus dem Fahrzeug und schossen erneut auf die am Boden
liegenden Personen.
Schließlich nahmen die Soldaten die schon toten Noel Philipps und Danny
Teggert sowie den noch lebenden Joseph Murphy und zwei weitere Personen,
Gerard Russell und David Callaghan, mit in die Henry Taggert Kaserne.
Gerard Russell und David Callaghan erklärten später, dass die mitgenommenen
Männer - statt medizinisch versorgt zu werden - brutal misshandelt worden
seien. Joseph Murphy, dessen Beinschuss medizinischer Behandlung bedurft
hätte, sei mit einem Gummigeschoss beschossen worden und starb in der
Kaserne. Gerard Russell wurde nach eigenen Angaben mit einem Bajonett in
eine seiner Schusswunden gebohrt und man versuchte, ihn am Bajonett
hochzuziehen. Erst das Einschreiten eines Militärkaplan habe diese
Behandlung beendet.
Auch in diesem Fall erklärte das Verteidigungsministerium im Anschluss
gegenüber den Medien, man habe mehrere bewaffnete Männer sowie eine
bewaffnete Frau erschossen.
Am folgenden Tag, dem 10.August, errichteten die Bewohner auch in
Ballymurphy Straßenbarrikaden, unter anderem am McCrory Park über die
Whiterock Road. Der junge Familienvater Eddie Doherty wurde erschossen, als
er am frühen Abend dieses Tages zu Fuß in der Umgebung unterwegs war.
... zusammengeschlagen, festgenommen und misshandelt ...
Am 11.August waren schon in den frühen Morgenstunden laute Rufe, Lärm und
das Schlagen von Mülltonnendeckeln zu hören, was viele Anwohner aus ihren
Häusern trieb.
An diesem Tag drang ein Fallschirmspringerregiment in den Stadtteil ein.
Joseph Corr, der mit seinem Sohn am Morgen das Haus verlassen hatte, wurde
später bewusstlos, von Kugeln getroffen und schwer zusammengeschlagen
aufgefunden. Er erlag zwei Wochen später seinen Verletzungen.
Die Brüder John and Terence Laverty verließen ebenfalls frühmorgens das
Haus, verloren sich aber bald aus den Augen. Während Terence Laverty in der
Nähe der Whiterock Road von Soldaten des Fallschirmspringerregiments
zusammengeschlagen, festgenommen und in der Haft wiederholt misshandelt
wurde, wurde John Laverty später zusammengeschlagen und erschossen
aufgefunden. Terence erfuhr erst nach seiner Haftentlassung mehrere Tage
nach dem Ereignis vom Tod seines Bruders.
Der gebürtige Engländer Pat McCarthy, der als Jugendarbeiter in Ballymurphy
tätig war und schon am 9.August durch einen Schuss in die Hand verletzt
worden war, wurde am 11.August auf seinem Weg ins Community Centre von
Mitgliedern des Fallschirmspringerregiments angehalten. Nach
Augenzeugenberichten wurde er von den Soldaten erniedrigt und gequält, unter
anderem wurde ihm ein Gewehrlauf in den Mund gesteckt, bis er schließlich an
einem Herzanfall starb.
John McKerr befand sich auf dem Weg zur Corpus Christi Kirche, wo er sich
regelmäßig um die Vorbereitungen für Beerdigungen kümmerte, als er auf der
Straße erschossen wurde; er erlag am 20. August seinen Verletzungen.
In den ersten Tagen nach Einführung des "internment without trial" wurden
mehrere Tausend Menschen in Flüchtlingslager südlich der irischen Grenze
verbracht, unter ihnen auch Kinder der in Ballymurphy Getöteten.
Nach 36 Jahren sind immer noch zahlreiche Fragen offen
Andree Murphy von Relatives For Justice führte durch die Veranstaltung, in
deren Rahmen Angehörige und Freunde in chronologischer Folge die oben
geschilderten Ereignisse aus dem August 1971 Revue passieren ließen und die
Tage und Stunden, in denen ihre Familienmitglieder ums Leben kamen, aus
Ihrer Sicht schilderten.
Im Anschluss an die Gedenkveranstaltung diskutierte ein Panel, dem unter
anderem die Autorin Susan McKay ("Northern Protestants"), Professor Bill
Rolston (Ulster University), Clara Reilly (Relatives For Justice) sowie ein
Vertreter der Pat Finucane Centres in Derry angehörten, mit dem Publikum
über denkbare Instrumente wie beispielsweise Truth Commissions oder
Untersuchungskommissionen und deren Eignung zur Aufklärung und Bewältigung
von Ereignissen wie denen vom August 1971 in Ballymuphy.
Die Veranstaltung war wie in der Regel alle Veranstaltungen während des
Festivals sehr gut besucht und entsprechend der Thematik - sowie nicht
zuletzt aufgrund der Mitwirkung der zahlreichen Angehörigen und Freunde der
im August 1971 ums Leben Gekommenen - sehr emotional und aufwühlend.
Durch die anschließende Podiumsdiskussion wurde andererseits auch der Blick
in die Zukunft gerichtet und deutlich gemacht, dass nach 36 Jahren immer
noch zahlreiche Fragen offen sind und viel Arbeit erforderlich ist, um den
britischen Staat endlich dazu zu zwingen, für die Ereignisse vom August 1971
in Ballymurphy - ebenso wie auch für zahlreiche andere ähnliche Vorfälle im
Zuge der "troubles" - Verantwortung zu übernehmen.
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Bericht als PDF (145 kB)
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Relatives for Justice
Webseite >>
Aus unserer Einladung
zur Teilnahme an
der Delegation:
Seit 1988 verwandelt sich West Belfast jedes Jahr in der ersten Augustwoche
in eine bunte Mischung aus Stadtviertelfest, internationalem Kultur- und
Musikprogramm mit Künstlern aus aller Welt und politischen Veranstaltungen
zur Konfliktlösung im eigenen Land und international. West Belfast ist das
grösste irische Viertel in Belfast, politisch überwiegend
irisch-republikanisch eingestellt. Bei der letzten Wahl erhielt Sinn Féin
fast 70% der Stimmen, Gerry Adams ist seit Jahrzehnten Abgeordneter des
britischen Unterhauses für West Belfast, auch wenn er diesen Sitz nicht
einnimmt.
Nach dem grossen Durchbruch im Friedensprozess, der Einigung von Sinn Féin
und DUP auf eine gemeinsame regionale Regierung ab 8. Mai 2007, wird das
Festival dieses Jahr mehr denn je von einer politischen Aufbruchstimmung
geprägt sein. Wir werden mit einer Delegation vom 6.-10. August 2007 vor Ort
sein, am Festival teilnehmen, aber auch Gespräche mit politischen Parteien,
Aktivisten und Community-Gruppen organisieren.
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