Reisebericht:
Delegation zum West Belfast Festival im August 2005
von Brigitte Priebe und Uschi Grandel
Seit 1988 verwandelt sich das irisch-republikanische West Belfast jedes Jahr
in der ersten Augustwoche in eine bunte Mischung aus Stadtviertelfesten,
internationalem Kultur- und Musikprogramm mit Künstlern aus aller Welt und
politischen Veranstaltungen zur Konfliktlösung im eigenen Land und
international.
Das West Belfast Festival ist ein durch und durch politisches Festival, das
den Prozess der Konfliktlösung unterstützt und dem Staatsterror in
Nordirland und weltweit mit viel Selbstbewusstsein den Kampf angesagt hat.
Es ist ein Erbe der Bürgerrechtsbewegung, die im Apartheid-Staat Nordirland
Ende der 60er Jahre für Bürgerrechtsforderungen und Menschenrechte auf die
Strasse ging: für gleiches Wahlrecht, für ein Ende der Diskriminierung bei
Arbeits- und Wohnungssuche, für Gerechtigkeit und Menschenwürde.
(aus unserer Einladung zur Teilnahme an der Delegation)
Donnerstag, 28. Juli 2005
Wir waren bereits in Belfast und so wurden wir Zeugen eines historischen Ereignisses:
Seanna Walsh verliest die Erklärung der IRA, in dem sie das Ende ihres bewaffneten Kampfes
bekanntgibt:
"Alle IRA-Einheiten wurden angewiesen, ihre Waffen abzugeben. Alle IRA-Aktivisten wurden
instruiert, die Entwicklung von rein politischen und demokratischen Initiativen durch
ausschliesslich friedliche Mittel zu unterstuetzen. IRA-Aktivisten duerfen sich an keinen
andersgearteten Aktionen beteiligen."
Die Erklärung deutscher Übersetzung findet sich unter:
>>>> Sinn Féin - Peace Process Special - IRA Statement <<<<
Es war phantastisch, an diesem Tag in Belfast zu sein, und die Reaktionen hautnah mitzuerleben.
Am Abend sind wir im Pub Glenowen in der Glen Road im irisch-republikanischen Westbelfast.
Morgen beginnt das Festival und die Leute sind in Feierlaune.
Die Erklärung der IRA ist das Thema des Abends. Auf den drei Grossbildfernsehern des Pubs läuft das lokale Programm
BBC Ulster, die eine Sondersendung mit Interviews von Politikern und Passanten zu der Meldung des Tages bringen.
Die Stimmung der überwiegend republikanischen Gäste ist freundig erregt. Stolz, dass "wir" den ersten
Schritt getan haben, aus Stärke. Viele sehen diesen Schritt als Befreiungsschlag, akzeptiert, spätestens seit
der Aufforderung des Sinn Féin Präsidenten Gerry Adams an die IRA absehbar und mutig.
Aber es gibt auch Bedenken, dass die kleinen irischen Viertel in Nordirland dem hohen Level an loyalistischer
(unionistischer, pro-britischer) Gewalt durch die unionistischen Paramilitärs UVF, UDA und LVF, die seit Wochen
in eine blutige Fehde verstrickt sind, nun schutzlos gegenüberstehen.
Die Meldungen aus den unionistischen/loyalistischen, pro-britischen Vierteln sind jedenfalls erschreckend:
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am Montag, den 25. Juli schockierten Bilder aus der Ostbelfaster Strasse Garnerville: hunderte vermummte
UVF Paramilitärs übernehmen die Kontrolle, um sieben LVF Familien zu vertreiben. Die Polizei sieht
passiv zu.
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am Donnerstag, den 4. August, liefern sich Loyalisten der UVF dominierten Woodvale Road im Viertel Upper Shankill
Strassenschlachten mit der Polizei. Vier Autos gehen in Flammen auf, ein Doppeldeckerbus wird entführt und ausgebrannt,
Rohrbomben und Brandbomben fliegen. Der Aufruhr ist nur wenige Meter unterhalb der Ardoyne Shops, wo Oraniermärsche
unter Beteiligung bekannter UVF Gestalten im Juni und Juli gegen den Protest der Ardoyner Anwohner unter Polizeischutz
erzwungen worden waren.
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am Freitag, den 5. August, überfallen Loyalisten nachts ein Päärchen aus Ardoyne, das zu Fuss auf dem Heimweg ist, mit
einer Machete. Die Loyalisten waren im Auto unterwegs auf der Suche nach einem Opfer. Sie hacken dem Mann zwei Finger ab.
Die Reaktion der unionistischen, pro-britischen Politiker und der unionistischen Paramilitärs entlarvt, wie sehr sie
die IRA als
Sündenbock und als immer gute Entschuldigung dafür gebraucht hatten, den Friedensprozess zu destabilisieren.
Sie sind wütend. Die DUP, inzwischen die stärkste Partei im unionistischen Lager, hatte eine Einigung, die
die Entwaffnung der IRA im Dezember letzten Jahres im Rahmen eines politischen Gesamtpakets vorsah, in letzter
Minute verhindert.
Die DUP stellte die demütigende Forderung nach photographischer Überwachung der
Waffenvernichtung. Hämisch verlangte der DUP Chef Ian Paisley in einer seiner gewohnten Brandreden, die
Republikaner müssten in "Sack und Asche" gehen. Er wähnte sich so sicher, dass die Forderung nach Demütigung ein
Druckmittel war, den weiteren Fortschritt im Friedensprozess zu verhindern.
Im Fernsehen sehen wir Ian Paisley denn auch das erste Mal sprachlos. Lahm und fast sprachlos sagt er, man dürfe der
IRA nicht blind trauen, sondern müsse Taten abwarten. Der Kommentar ist aber meilenweit entfernt von den üblichen
Donnerreden des fanatischen Anti-Republikaners.
Ein Paramilitär der UVF, selbst in Morde und Fehden verstrickt, bezeichnet die IRA Erklärung als besorgniserregend.
Er schliesse daraus, dass die IRA sich sehr sicher fühlen müsste, ein vereinigtes Irland zu erreichen.
Nein, eine Entwaffnung der UVF käme nicht in Frage.
Die britische Regierung begrüsst die Erklärung "wärmstens" als "wichtige Entwicklung im Friedensprozess".
Die irische Regierung bezeichnet sie als "historische Entscheidung".
Selbst Papst Benedikt kommentiert die Erklärung als "freudiges Ereignis".
Freitag, 29. Juli 2005
Noch immer bestimmt die Erklärung der IRA vom Vortag das Geschehen. Die britische Regierung veröffentlicht einen
Demilitarisierungsplan, der innerhalb der nächsten 2 Jahre abgeschlossen sein soll.
Mit sofortiger Wirkung wird einer der hochgerüsteten Armeestützpunkte in South Armagh in der Nähe von Camlough geräumt und
abgebaut ... und das Hochhaus Divis Tower am unteren Ende der Falls Road in Westbelfast.
Seit 30 Jahren hatte die britische Armee die beiden obersten Etagen dieses Hochhauses besetzt, und auf dem Dach jede Menge
Überwachungselektronik installiert. Das ist nun Vergangenheit.
Geplant ist weiterhin die Auflösung des Regimentes "Royal Irish Regiment (RIR)". Die Unionisten toben. Die RIR war mehr
als Polizei und Armee ihre Truppe mit derzeit etwa 3000 Soldaten unter Waffen und ca. 50 000 Soldaten, die insgesamt
die RIR durchlaufen haben. Bei einer Bevölkerung von 1.5 Millionen und etwa 800 000 Menschen, die in unionistischen
Vierteln leben, sind dies über 5% der unionistischen Bevölkerung.
Abends war dann Festivalstimmung pur im "Big Foot", dem zentralen Festival Saal an der Falls Road.
Zur Eröffnung spielten die Hothouseflower und Jerry Fish & The Mudbug Club,
beide Bands aus Dublin und beide richtig gut.
Samstag, 30. Juli 2005
Wir besuchen eines der politischen Festival Ereignisses, eine Veranstaltung mit Billy Leonhard. Er erzählt über seine
Entwicklung vom ehemaligen Polizisten der RUC Reserve zum ersten Sinn Fein Landrat in Coleraine.
Die Veranstaltung fand im irisch-republikanischen Club "Rodaís Mac Corlaís" statt und Billy war sicher der erste
(Ex)-Polizist, der diesen Club mit einer Einladung zu einem Vortrag betrat.
Einige Aspekte seiner Wandlung:
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Eintritt in die RUC Reserver in Lurgan aus familiärer Tradition, in den 70er Jahren zunehmend desillusioniert über
Rolle und Ethos der Polizei (sein Beispiel: Polizisten aus Lurgan war in den Mord an der Miami Showband, einer
irischen Musikgruppe, durch Zusammenarbeit mit den loyalistischen Mördern verstrickt.)
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Heirat einer Frau aus dem irisch-nationalistischen Viertel seiner Heimatstadt und die gute Aufnahme durch ihre Familie
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politisches und historisches Interesse seit Jugend und damit zunehmend Konflikt mit dem staatlich vermittelten
Geschichtsbild, das jede gesamtirische Geschichte ausblendet. "Nordirland ist von Wasser umgeben", nennt er es spöttisch.
Abends gehen wir in eine der Theatersessions: "The Wrong Man" wird nach der Vorlage des gleichnamigen Buches von
Danny Morrison von einem Londoner Ensemble gespielt. Der Inhalt: "Ein Informant in der IRA muss gefunden werden.
Aber verdächtigt die IRA vielleicht den Falschen? Warum sollte er seine Freunde verraten? Ein Stück über die dunkle
Seite des Konflikts, über Betrug, Loyalität und die Menschen, die in all das verwickelt waren."
Das Buch gibt es übrigens auch in deutscher Übersetzung:
Der falsche Mann
Sonntag, 31. Juli 2005
Am Sonntag findet die grosse Eröffnungsparade statt. Ein karnevalistischer Umzug vieler lokaler Gruppen,
zusätzlich internationale Gäste und ethnische Minderheiten aus ganz Belfast.
Die Abschlussparty findet im McRory Park statt. Über Jahrzehnte war er ein riesiges Militärgelände der britischen
Armee und wurde erst vor einigen Jahren den ursprünglichen Eigentümern, einem Sportverein wieder zurückgegeben.
Montag, 1. August 2005
Wir besuchen die Veranstaltung zur Erinnerung an die Masseninternierungen vom 9. August 1971.
Vertreter beider Seiten, der irisch-republikanischen und der pro-britisch unionistischen Viertel diskutieren die
Ereignisse und die Folgen für die weitere Entwicklung ihrer Viertel.
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Teilnehmer
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Des Wilson, katholischer Pfarrer, von der katholischen Hierarchie wurde ihm in den 70er Jahren seine Pfarrei entzogen,
aktiver Bürgerrechtler, mahnende Stimme gegen staatliche Willkür.
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Gerry McConville, Direktor des selbstorganisierten Falls Community Council, der sich für Menschenrechte,
soziale Gerechtigkeit und ökonomische Gleichheit in Westbelfast engagiert.
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loyalistischer Jugendarbeiter aus dem Shankill Bezirk, dessen Namen wir hier bewusst nicht erwähnen.
Eine Teilnahme an einer solchen Veranstaltung gilt unionistischen/loyalistischen Hardlinern als "Verrat".
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organisiert von der Gruppe "Interaction Belfast"
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Ort: ehemaliger Brennpunkt zwischen dem irisch-republikanischen Teil West Belfasts und dem loyalistischen
Bezirk Shankill, jetzt internationales Seminarzentrum in idyllischer Gegend
Die Reaktion der beiden Communities auf die Internierungen durch die britische Armee war völlig unterschiedlich:
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die unionistischen Viertel betrachteten sich zuerst als nicht-betroffen, weil "der Feind" die irischen Viertel
waren. Als auch (einige wenige) Unionisten interniert wurden, wurden diese und ihre Familien als "Aussätzige"
behandelt. In den unionistischen Vierteln war "man" gesetzestreu, rechtschaffen und protestantisch und
betrachtete Polizei und britische Armee als Schutz vor den Forderungen "der anderen". (A propos "mann", "frau" hatte
hier gemäss dem erzkonservativen Weltbild der Unionisten eh nichts zu melden).
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im Gegensatz dazu schweißten die massenhaften Verhaftungen und Hausdurchsuchungen in den irisch-katholischen
Vierteln mit Hunderten von Verhaftungen die Menschen zusammen. Berichte über Folter der Internierten verstärkten
dieses Gemeinschaftsgefühl.
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Gerry McConville berichtet darüber, wie erstaunt er damals war, dass in den protestantischen, unionistischen
Vierteln, wo alle Arbeit in den grossen Fabriken hatten, z.B. in der Harland&Wulf Werft, auf der einst die Titanic
gebaut worden war, die soziale Situation (Zustand der Häuser, fehlende sanitäre Anlagen, usw.) nicht besser war
als in den irisch-katholischen Vierteln, die geprägt waren von hoher Arbeitslosigkeit.
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Des Wilson prangert die Doppelmoral seiner katholischen Kirche an, die vehement gegen die freiwillige
Darstellung nackter Körper, z.B. in der Kunst, zu Felde zieht, von der jedoch kein Wort der Kritik gegen
die demütigenden und gewalttätigen "strip searches" weiblicher Gefangener zu hören war.
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Alle waren sich einig, dass eine wichtige Erfahrung aus den Internierungen sei, dass jeder Versuch, Folter
zu legalisieren, auf das Schärfste bekämpft werden muss, unabhängig von den Rechtfertigungsversuchen des
jeweiligen Staates. Ausserdem darf nicht vergessen werden, dass Folter die Mithilfe von Ärzten benötigt.
Die 13. Frank Cahill Memorial Lecture hatte das Thema "Women in Political Leadership". Mitglieder des
"Iranischen Nationalen Widerstandskongresses" berichteten über ihren Kampf gegen das Regime der Mullahs im Iran.
Weil sich die Unterdrückung der Mullahs vor allem gegen Frauen richtet, sieht die Gruppe die Etablierung von
Frauen in Führungspositionen als wichtiges Signal. Sie lehnen die Zusammenarbeit mit den Mullahs ab und
kritisieren die europäische Haltung gegenüber dem Iran, mehr jedoch fürchten sie einen Angriff Amerikas,
den sie auf das Schärfste ablehnen.
Dienstag, 2. August 2005
Wir besuchen Radio
Féile FM.
Das Radio wird von insgesamt 120 Leuten betrieben, bis auf die eine festangestellte Managerin Emma sind alles
Freiwillige, viele junge Leute. Das Radio sendet an 28 Tagen im Jahr, immer für feste Highlights:
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kurze Sendeperiode zum Frühjahrsfestival
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zehn Tage während des Jugendfestivals
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Sommerfestival Féile An Phoblacht
Die Lizenz für ein ganzjähriges Communityradio ist beantragt (und inzwischen - Stand November 2005 - genehmigt).
Auch ein Zeichen sich ändernder Zeiten, der
Stärke und des Selbstbewusstseins in den irischen Vierteln. Während der ganzen Jahre, die Féile FM schon sendet,
musste das Radio sich mit eigener Kraft gegen die Widerstände des Establishments behaupten.
Der Empfangsradius ist derzeit etwa 9 km, reicht also auch in die irischen und unionistischen
(pro-britischen) Viertel in Nordbelfast. Das Radioteam hat das Shankill Women Centre aus dem unionistischen Teil
Westbelfasts mit einem festen, zweistündigen Sendeplatz am Mittwoch vormittag einbezogen.
Das Radio betrachtet sich als unabhängiges Community Radio. Die Moderatoren, Rechercheteams und Nachrichtenteams
lernen ihre Arbeit von professionellen Journalisten, die ebenfalls ehrenamtlich im Vorfeld der Sendetermine
Kurse durchführen. Die Qualität des Radios ist extrem hoch und so ist es nicht nur ein Diskussionsforum für
alle Belange der verschiedenen Gruppen und Individuen in West Belfast, sondern auch eine Möglichkeit für
Jugendliche, sich in einem Viertel mit chronisch hoher Arbeitslosigkeit eine Perspektive zu erarbeiten.
Wir erhalten eine Einladung zu einer 1-stündigen Sendung, die wir in deutsch-italienischer Kooperation
zusammen mit Silvia Calamati auch wahrnehmen. Silvia ist eine italienische Journalistin, die seit Jahrzehnten
über Nordirland schreibt und regelmässig mehrfach im Jahr vor Ort ist. Sie hat zwei Bücher geschrieben, eines davon,
Women’s Stories from the North of Ireland ist auch in English erschienen.
Am Nachmittag treffen wir uns mit fünf Frauen aus dem unionistischen Bezirk Shankill in den Räumen des
Shankill Women Centre, um über die Situation im Viertel zu reden.
Die Frauen arbeiten in verschiedenen Community Gruppen
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Projekt für die Opfer der Fehde der unionistischen (loyalistischen) Paramilitärs im Bezirk Shankill
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Interface Projekt zwischen den irisch republikanischen und pro-britisch unionistischen Teilen West Belfasts.
Die Stimmung in den unionistischen/loyalistischen Bezirken ist derzeit wegen der blutigen Fehde der
unionistischen Paramilitärs sehr angespannt und es erfordert einiges an Mut von den Frauen, in einer
solchen Situation mit Fremden überhaupt zu reden. Nun, ganz fremd sind wir nicht, über Jahre haben wir den
Kontakt zu Gruppen im Shankill-Bezirk gesucht. Wir haben immer wieder Berichte gehört, wie die Paramilitärs
von UDA, UVF und LVF in ihren Bezirken mit Angst und Terror herrschen.
Wir reden über die Lage im Bezirk Shankill:
die Fehde zwischen der UDA und der UVF um die Vorherrschaft im Bezirk Shankill ist mittlerweile fünf Jahre her,
trotzdem ist der Bezirk sehr gespalten und die Atmosphäre von Furcht geprägt. 250 Familien wurden damals von
der UDA aus ihren Häusern im Bereich "Lower Shankill" vertrieben und leben jetzt ein paar hundert Meter
weiter im UVF-Bezirk "Upper Shankill". Die meisten konnten gerade einmal ihre notwendigsten Habseligkeiten
mitnehmen, Einrichtungsgegenstände wurden gestohlen oder demoliert, die Häuser zum Teil unbewohnbar gemacht.
In viele der Häuser zogen linientreue UDA-Familien ein (einige davon aus dem Upper Shankill vertrieben).
Die Familien haben keine staatliche Hilfe, keine psychologische Betreuung erhalten. Hilfe zur Selbsthilfe
koordinieren freiwillige Helfer. Ein spezielles Problem existiert für die hochtraumatisierten Kinder,
die jetzt erst Verhaltensänderungen, wie z.B. Depressionen zeigen und dringend Hilfe benötigen.
Das Women's Centre liegt im Grenzbereich zwischen Lower Shankill und Upper Shankill, einer imaginären
Grenzlinie, die viele Familien aus Furcht heute noch nicht überschreiten. Das Women's Centre ist der einzige
neutrale Ort, an dem sich Frauen aus dem ganzen Viertel treffen. Das Centre hat über die Jahrzehnte seit den
siebziger Jahren viel Unterstützung von Frauengruppen aus den irischen Vierteln erhalten. Selbstorganisation,
Aufbau von Community-Strukturen, Dinge selbst in die Hand nehmen, sich einbringen, waren die Mittel, mit denen
sich die irisch-republikanischen Viertel während des langen Konfliktes gegen staatliche Willkür und Unterdrückung
zur Wehr setzten. In den "gesetzestreuen", eher konservativen unionistischen Viertel, die von einem extrem
konservativen Frauenbild geprägt sind, mussten die Frauen das erst mühsam lernen. Aber das Frauennetzwerk
in Belfast ist sehr gut, was auch daran sichtbar wird, dass eine der Frauen der Gesprächsrunde aus einem
irischen Viertel kommt.
Es ist nicht einfach für die Anwohner im Shankill, sich gegen "ihre" unionistischen/loyalistischen Paramilitärs zu
behaupten. So wurde in mühsamen Verhandlungen erreicht, dass während der "marching season", der Zeit der
Oranierparaden keine Bürgersteige mehr blau-weiss-rot angemalt werden. Die Beflaggung ist immer noch eines der
Probleme. Gerade ältere Menschen beschweren sich über den Lärm, den die Fahnen vor ihren Fenstern verursachen,
haben jedoch keine Handhabe gegen die Paramilitärs.
"The Session", eine politisch gefärbte Musik-Komödie des Belfaster Regisseurs Brian Moore war eines der
Festival-Higlights, spielte täglich vor ausverkauftem Haus und ist derzeit in Irland auf Tournee.
Die Veranstaltung zur Situation des Konflikts in Palestina mit Lheila Khaled musste per Videolink nach Dublin
stattfinden. Grossbritannien hatte Lheila die Einreise verweigert.
Mittwoch, 3. August 2005
Empfang in der Belfaster City Hall durch den Sinn Fein Stadtrat Paul Maskey. Pauls Bruder Alex Maskey war im
Jahr 2002 der erste Sinn Fein Bürgermeister in der Geschichte Belfasts.
In einer hervorragenden Rede zur Übernahme des Bürgermeisteramts sagte Alex Maskey damals:
Ich möchte in diesem Jahr als Bürgermeister alle Menschen dieser Stadt repräsentieren.
Dafür steht irischer Republikanismus. Darum geht es in unseren Anstrengungen um Frieden.
Irischer Republikanismus ist eine demokratische Philosophie, die niemanden ausgrenzt.
Belfast war im 18. Jahrhundert die Wiege des Republikanismus. Seine Verfechter und Unterstützer
hatten als Hintergrund die (protestantischen)Traditionen der Presbyterianer und der Church of Ireland.
In jenen Tagen war Belfast ein Ankerpunkt für positives, progressives Denken.
Es war kein Zufall, dass es damals das Athen des Nordens genannt wurde; kein Zufall, dass Belfast die erste
Stadt auf diesen Inseln war, die Schiffe aus ihrem Hafen verbannte, die in Sklavenhandel verwickelt waren.
Meine Hoffnung ist, in meiner Zeit als Bürgermeister dazu beizutragen, einen solchen Geist wiederzubeleben....
Aber ich bin auch in einer gespaltenen Stadt aufgewachsen. Das Rathaus war nicht für die Viertel und ihre Bewohner
da, die ich repräsentiere und von denen ich komme. Aber das ändert sich. Und das ist gut für alle Bürger
Belfasts....
Ich möchte das Bürgermeisteramt für das Wohl aller Bürger in Belfast ausüben und möchte sicherstellen, dass
Belfast ein gastfreundlicher Ort ist, an dem sich Besucher wohlfühlen.
Es ist meine feste Absicht, in dieser Hinsicht so viel wie möglich zu erreichen.
Drei Jahre später erzählt Paul von dem gewaltigen Anstoss, den die Initiative der IRA der Sinn Fein Wählerschaft
gegeben hat. Anrufe am laufenden Band von Menschen, die sich einbringen wollen. Aber auch Besorgnis von
Menschen, die sich nun schutzlos fühlen. Paul erzählt, wie sie Leute ermutigen, sich selbst einzubringen und die
Lücke zu füllen.
Abends gab es eines der politischen Highlights, die uns, die wir aus dem politikverdrossenen Deutschland kommen,
hier einfach nur begeistern. "West Belfast Talks Back" nennt sich die Veranstaltung, in der ein Podium mit
Vertretern aller grossen politischen Parteien einer etwa 800-köpfigen Zuhörerschaft Rede und Antwort stehen.
Diesjährige Teilnehmer:
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Reg Empey, Chef der pro-britischen Ulster Unionist Party (UUP), lange Zeit die stärkste Partei der Unionisten,
inzwischen überholt von der DUP
-
Arlene Forster, Democratic Unionist Party (DUP), als unionistische Hardlinerin 2003 von der UUP zur DUP
gewechselt
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Dolores Kelly, Social Democratic Labour Party (SDLP), irisch-nationalistische Partei, Stadträtin für Craigavon
-
Conor Murphy, Sinn Fein (SF), irisch-republikanische Partei, stärkste Partei des irisch-nationalistischen
Lagers, Westminsterabgeordneter für Newry/South Armagh
Moderator: Conor Bradford von der BBC nahm ungefiltert Fragen aus dem Publikum entgegen
und reichte sie an das Podium weiter.
Themen waren:
-
hohe Selbstmordrate der Jugendlichen in Irland
Anwesend waren wohl 800 Menschen, der Saal in St. Louises College an der Falls Road war völlig überfüllt.
Etwa 3/4 der Anwesenden kamen aus dem republikanischen West Belfast, dem Viertel, das zur Veranstaltung
eingeladen hatte. Der Rest kam aus anderen Teilen Belfasts oder war extra von weiter her angereist. Einige
wenige internationale Gäste waren erstaunte Zuschauer.
Die Fragen der Zuhörer wurden auf hohem Niveau gestellt, der Saal war extrem diszipliniert und sehr höflich.
Selbst Arlene Forster wurde vom überwiegend republikanischen Publikum mit höflichem Beifall begrüsst, was
umso deutlicher die Absurdität der DUP-Position zeigt, die sich immer noch weigert, mit Sinn Fein Repräsentanten
zu reden oder die simpelsten menschlichen Anstandsregeln einzuhalten, wie z.B. einen SF-Repräsentanten nur zu
begrüssen.
Donnerstag, 4. August 2005
Die Dachorganisation der ehemaligen republikanischen Gefangenen,
Coiste na n-Iarchimí,
lädt zur Informationsveranstaltung und Erfahrungsaustausch über politische Gefangene
in Irland, dem Baskenland, Palestina und dem früheren Apartheids-Südafrika.
Bedrückend ist die Lage der politischen Gefangenen in allen Ländern, in Palestina ist besonders anzumerken,
dass in erschreckendem Maße Recht und internationale Resolutionen ohne weitere Konsequenzen für Zehntausende
komplett ausser Kraft gesetzt sind.
Ein zweites Thema war der Launch der überarbeiteten Webseite von Coiste na n-Iarchimí's
Political Tours Projekt.
Das Projekt bietet Unterstützung für diejenigen, die sich über den Konflikt, den Friedensprozess und die
politische Lage vor Ort informieren wollen. Wir unterstützen dieses Projekt nicht zuletzt durch Kooperation im
Rahmen unserer Delegation.
Scribes on the Rock in der Rock Bar, einem der richtig alten und nostalgischen Pubs der Falls Road:
jedes Jahr wieder eine Literaturveranstaltung, in der schon Stunden vor Beginn
der Saal zum Bersten voll ist. Bekannte Autoren lesen aus ihren Werken .... und das Publikum ist begeistert.
Youth for Truth ist das Thema einer 1-tägigen Jugendkonferenz, zu der
An Fhírinne (Die Wahrheit)
eingeladen hatte.
An Fhírinne sucht Aufklärung zum Thema Collusion, dem dunklen Kapitel der Zusammenarbeit staatlicher britischer
Stellen mit unionistischen/loyalistischen Todesschwadronen, der während des Konflikts schätzungsweise mehrere
hundert Menschen zum Opfer gefallen waren. Junge Leute, deren Angehörige durch Collusion ermordet wurden,
gestalten diesen Tag und berichten - oft zum ersten Mal vor Publikum - wie diese Morde ihr Leben veränderte.
Ca. 300 Jugendliche waren zusammengekommen, um die Kampagne zur Aufklärung dieser Verbrechen weiter zu treiben.
Abends kam uns langsam ins Bewusstsein, dass dies der letzte Abend der gemeinsamen Delegation war. U2- und Oasis
Cover Band im offiziellen Feile Programm gegen ein gemütliches Pint bei Irish Traditional, die Meinungen waren
geteilt. Aber den Ausklang beim letzten Pint gabs gemeinsam.
Freitag, 5. August 2005
Am Freitag machten wir einen Abstecher zum New Lodge Festival in Nordbelfast und bekamen eine private
Stadtteilführung. Girwood Barracks, eine der grössten Polizei-und Militärkasernen in Nordbelfast wird gerade
abgebaut. Einige Quadratkilometer Land in Stadtzentrumsnähe werden damit in Zukunft hoffentlich einer
positiven Verwendung zugeführt.
Was uns diesmal ebenfalls positiv aufgefallen ist: nach langer Blockadepolitik des langezeit mehrheitlich
unionistischen Belfaster Stadtrats und seiner "die kriegen nichts"-Politik gegen irische Viertel haben wir die
ersten Kinderspielplätze in New Lodge und am Dunville Park an der Falls Road gesichtet.
Ausklang am Abend im Pub Sean Mc Diarmuda bei irischer Musik mit dem irisch-republikanischen
Balladen-Duo Bik McFarlane & Terry O'Neill. Einfach klasse. Es gibt sie auch auf CD - wir finden sie sehr
empfehlenswert. Unsere Favoriten: "Something Inside So Strong" (Bik McFarlane & Terry O'Neill) oder auch
"Irish Ballads" (Terry O'Neill). Beide erhältlich im
Sinn Fein Online bookshop.
Samstag, 6. August 2005
Nach ausgiebigem Kaffee im schönsten Sonnenschein im neueröffneten Falls Road Strassencafe war "Prisoners' Day"
im Felons Club angesagt. Der Felons Club ist ein irisch-republikanischer sozialer Verein ehemaliger
politischer republikanischer Gefangener. Mitglied kann nur werden, wer aus politischen Gründen im Gefängnis
war. Nelson Mandela ist Ehrenmitglied des Vereins.
Der "Prisoners' Day" ist eine alte Institution im Festival Programm und eine Mischung aus gemütlichem Treffen
mit alten Bekannten und politischer Information. Diesmal stand die Wiederbelebung des "Green Cross" im Mittelpunkt.
Das Green Cross ist die Hilfsorganisation für Gefangene, deren Lage in Magheberry Jail immer noch katastrophal ist,
und kümmert sich auch um die Familien der Gefangenen.
Abends war Party in Ballymurphy angesagt, in der Halle des lokalen gälischen Sportvereins.
Sonntag, 7. August 2005
Demonstration zum Jahrestag der Internierungen, ebenfalls veranstaltet von
An Fhírinne (Die Wahrheit).
Themen der Demonstration, an der ca. 2000 Personen teilnahmen, waren:
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Collusion, die Zusammenarbeit britischer Stellen mit pro-britischen
Todesschwadronen
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Demilitarisierung des britischen Militärapparats im Norden Irlands
Die aus dem hochmilitarisierten South Armagh angereisten Demonstrationsteilnehmer brachten gleich einen ganzen
Wachturm nebst Soldaten mit, die sie am Ende der Demonstration in einem virtuellen Demilitarisierungsakt
abbauten.
Hauptredner der Abschlusskundgebung waren Albert Fullerton und Pat Doherty, An Fhírinne machte mit einer
pfiffigen Kultur- und Theatereinlage auf ihr Thema aufmerksam.
Die Andersontown News
schreibt:
"Albert Fullerton, dessen Vater (und damaliger Sinn Fein Landrat)Eddie von der UDA 1991 in seinem Haus in
County Donegal (eines der an Nordirland angrenzenden Länder der irischen Republik) ermordet wurde,
hält vor den Teilnehmern der Demonstration in Dunville Park eine emotionale Rede:
'Es ist ein absolutes Privileg und eine Ehre, hier im Herzen des republikanischen West Belfasts zu Euch zu
sprechen', sagte er.
Zum Thema Collusion, der Zusammenarbeit der britischen Regierung mit loyalistischen Todesschwadronen, fragte er:
'Wie war es all die Jahre für die britische Regierung möglich, irische Nationalisten zu ermorden und nicht zur
Rechenschaft gezogen zu werden?'
'Wäre so etwas in Italien, Frankreich oder Australien möglich? Die Antwort ist nein. Der Grund, warum sie
nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, ist das Versagen der irischen Regierung. Die irische Regierung erzählt,
sie repräsentiere alle Menschen in diesem Land, sie wertschätze alle Iren, aber in Wahrheit tun sie das
Gegenteil.'
Der ehemalige Sinn Féin Stadtrat in Buncrana sagte, man müsse auch das Versagen der irischen Regierung, die Briten
für Staatsterror und Collusion zur Verantwortung zu ziehen, untersuchen.
'Einer der Gründe, warum die britische Regierung für ihre Zusammenarbeit mit Todesschwadronen
nicht zur Verantwortung gezogen wurde, war die Komplizenschaft der irischen Regierung, die über all die
Jahre nicht einmal Bedenken geäussert hat zu dem, was da passierte.'
'Ich lebe in der irischen Republik und allzuviel wird unter dem Namen Demokratie in uns hineingestopft.
Und mein Vater, Eddie Fullerton, wurde vor unserem Haus unter den Augen meiner Mutter von britischen
Mördern erschossen und die (irische Polizei) Gardaí hat viel unternommen, die Wahrheit über diesen Mord zu
verschleiern.
'Wenn ein Repräsentant des irischen Staates von einem fremden Staat ermordet werden kann, ohne dass dies
untersucht und angeprangert wird, dann existiert Demokratie nicht,' fügte Herr Fullerton hinzu. 'In den letzten
Wochen haben wir viel über die Vernichtung der IRA Waffen gehört. Das ist eine gute Nachricht. Aber eine
Waffe bleibt über, die können sie uns nicht nehmen, und das ist die Wahrheit. '..."
Tag und Festival gingen im Felons Club zu Ende bei einem Konzert der "Irish Brigade".
Last not least ...
... möchten wir uns mit den Reiseberichten ganz herzlich bei denen bedanken, die uns
während der Woche Rede und Antwort standen.
Brigitte und Uschi
Ankündigung für die Delegation 2006:
Voraussichtlicher Termin: 1. Augustwoche 2006
Eintragung in eine unverbindliche Interessentenliste möglich per email an delegation@info-nordirland.de
Uschi Grandel, http://archiv.info-nordirland.de/, news@info-nordirland.de