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Besuch des Ost-Belfaster Stadtviertels Short Strand

Persönlicher Bericht

12.8.2002 | Uschi Grandel

Wir waren mit Joe Donnell um 11.00 im Gemeindezentrum Short Strand verabredet.

Beim Einbiegen in das kleine irisch-nationalistische Viertel sticht ein riesengrosses Mural ins Auge:

"Du brauchst nicht zu glauben, dass wir so blöd sind - ich meine - nur weil Du es irgendwo gelesen hast..."

sagt der kleine David auf dem Mural, der einen kleinen Stein auf den riesigen (loyalistischen) Goliath schleudert. Daneben findet sich eine Liste des loyalistischen Terrors der letzten Wochen: Inhaber von Geschäften auf der loyalistischen Seite werden von der loyalistischen UVF bedroht, wenn sie Katholiken bedienen. Studenten eines gemischten College wurden in ihren Räumen von Loyalisten überfallen. Die Studenten mussten Ausweise zeigen und sich demütigenden "Sprachproben" unterziehen, mit Hilfe derer die Loyalisten Katholiken herausfiltern wollten. Das College wurde mittlerweile geschlossen.

Seit Wochen werden die Anwohner von Short Strand attackiert: von loyalistischen Terrorbanden mit Bomben, Steinen, Musik, Flutlicht und von der Polizei mit Razzien und Prügeln.

Der erste Eindruck von Short Strand ist der eines schönen Wohngebiets, aufgelockert durch Grünflächen, ein recht modernes, neues Gemeindezentrum. Etliche der Bewohner haben inzwischen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ihre Häuser zu kaufen.

Im Gemeindezentrum treffe ich eine alte Bekannte. Wir begrüßen uns, mir fallen als erstes ihre rotgeränderten Augen auf. "Uschi, wir sind fix und fertig", sagt sie mir. Wochenlang hat sie keine Nacht richtig geschlafen. Die Erschöpfung, die rotgeränderten Augen und die schiere Verzweiflung fallen uns bei allen Anwohnern auf, denen wir begegnen. Ich besuche Belfast seit Jahren, so etwas habe ich noch nicht erlebt.

Joe führt uns durch den Bezirk. Joe ist Stadtrat und Mitglied der republikanischen Partei Sinn Fein. Er wurde letztes Jahr zum ersten Stadtrat in der Geschichte Ostbelfasts gewählt, der die nationalistisch/katholische/irische Minderheit im überwiegend loyalistischen Ostbelfast vertritt. Joe erzählt, dass Übergriffe auf Short Strand so alt sind wie das seit über hundert Jahren existierende Stadtviertel, dass aber das Ausmaß der Angriffe seit Mai alles zuvor in den Schatten stellt. Wir gehen an Reihenhäusern vorbei, in denen Rentner leben. Alle Fenster vergittert, die Dächer fast komplett ruiniert und mit Wellblech notdürftig geschützt. Auch die Häuser in der zweiten Reihe bieten dieses Bild, Ziegelsteine, Brandbomben und Farbbeutel werden mit Katapulten abgefeuert und dringen tief in das Viertel Short Strand ein. Die Häuser jenseits des meterhohen Zaunes auf der protestantischen Seite waren ungesichert und unversehrt.

Frauen in Clandeboye Drive zeigen uns die Verwüstungen, die die ständigen Angriffe von Cluan Place aus hinterlassen. Selbst während dieser Besichtigung fliegen Gegenstände über den mehrere Meter hohen Zaun, der die beiden Gebiete trennt. Dabei ist Cluan Place eine kleine Sackgasse, die von der Polizei leicht zu kontrollieren wäre.

Die Polizeiberichte über Short Strand, die als Pressemeldungen herausgehen, bedienen das Cliche des Kampfes der verfeindeten Lager. Die Anwohner sind über die Berichterstattung, die diese Lüge unkritisch weitergibt, wütend und verzweifelt. Sie erzählen, dass sie viele Einladungen an Journalisten verschickt hätten, ein paar Tage mit ihnen im Short Strand zu verbringen, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Die Einladung blieb weitgehend ohne Erfolg. Die Berichterstattung macht die Opfer zu Tätern. Ein Beispiel: am Samstag, den 10. August, wurde berichtet, 200 Nationalisten hätten aus Short Strand heraus die umliegenden protestantischen Wohngebiete angegriffen.

Der Frauen berichten von diesem Samstag-Nachmittag: sie hatten bei sonnigem Wetter ein Kinderfest veranstaltet, um die Kinder wenigstens einen Moment die trostlose Situation vergessen zu machen. Dabei haben sie die schweren Holzplatten, die als Schutz für Haustüren und Fenster überall an den Häusern lehnen, bunt angemalt. Dann sind betrunkene Rückkehrer eines Oraniermarsches über sie hergefallen. Später kam die Polizei dazu und hat die Anwohner zurück in ihre Häuser geprügelt. Eine der Frauen zeigt mir ihren Oberschenkel, der aus einem einzigen riesengrossen Bluterguss besteht.

Ich frage nach Kontakten zu den protestantischen Nachbarn in Ostbelfast: Joe berichtet, es gäbe gute Kontakte zu protestantischen Gemeinden der Nachbarschaft. Aber die haben politisch nicht viel Gewicht und trauen sich auch nicht an die Öffentlichkeit. Die Frauen weisen noch einmal darauf hin, dass der loyalistische Terror nicht von den Nachbarn kommt, sondern von Terrorbanden UVF und UDA, die auch die protestantische Seite terrorisieren.


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