Nordirland: Konfliktlösung erfordert Wahrheit!
Von Derry ...
Unser offizielles Programm startet am Montag, den 11.9.2000 um 14.00 Uhr in Derry mit dem Besuch
des Pat Finucane Centres (PFC). Das PFC hat ein paar Räume im ersten
Stock eines alten Hauses oberhalb des Stadtviertels Bogside, bekannt durch Free
Derry Corner, die Erinnerung an die Anfangszeit der Troubles, als
die Bogside "verbotene Zone" (no go area) für Britische Soldaten und RUC war.
Ich arbeite schon seit längerem mit dem PFC zusammen und dies hier ist nicht
mein erster Besuch, aber jedes Mal fasziniert mich von neuem, wie effizient die
Mitarbeiter und freiwilligen Helfer mit wenig Raum, chronischem Geldmangel und
viel Kreativität arbeiten. Einer der Mitarbeiter des Zentrums gibt uns eine
Einführung in die Arbeit des PFC, das sich für Menschenrechte und soziale
Veränderungen einsetzt. Er erzählt von der Aktionswoche, die das PFC Anfang
September zum Jahrestag der Ermordung des Teenagers Peter McBride durch zwei
britische Soldaten organisiert hat. Trotz Verurteilung durch ein ziviles
Gericht wurden die Soldaten nach kurzer Zeit aus dem Gefängnis entlassen und
wieder in die Britische Armee aufgenommen. Im Rahmen der Aktionswoche wurden
vor der Guildhall, Derry’s Rathaus, die Umrisse von Peter McBride und anderer
Opfer staatlicher Gewalt auf den Platz gemalt, ganz wie in einer kriminalistischen Untersuchung. Protestiert wurde damit gegen ein System, in dem die
zuständige Staatsanwaltschaft in den meisten Fällen Unrecht dann nicht
verfolgt, die RUC nicht ermittelt, wenn es sich beim Täter um einen britischen
Soldaten oder einen RUC Mann handelt. Diese Freibriefe für Britische Armee und
RUC sind ein Skandal. Versuche von britischen Medien und unionistischen Politikern,
Opfer staatlichen Terrors zu ignorieren und die diskreditierte RUC zu
heroisieren, haben dazu geführt, dass viele Opfer staatlicher Gewalt oder ihre
Angehörigen, die jahrelang resigniert geschwiegen haben, sich jetzt empört zu
Wort melden.
Das PFC berät die Betroffenen, organisiert Kontakte der betroffenen Familien untereinander zum
Erfahrungsaustausch. Selbstverständlich haben Öffentlichkeitsarbeit und
Aufklärung einen hohen Stellenwert.
Unter anderem führt das PFC eine monatliche Liste von Gewalttaten, die durch
religiösen Fanatismus motiviert sind. Die Liste zeigt schonungslos Monat für
Monat Attacken loyalistischer, probritischer Gangs. Die Opfer sind Katholiken
oder alles, was sie dafür halten. Das PFC besitzt ein Archiv, eine Sammlung von
Zeitungsartikeln der letzten Jahrzehnte. Manche Anfragen nach Archivmaterial
kommen auf etwas seltsamen Wegen: vor ein paar Jahren überfiel eine RUC-Einheit
das PFC. Sie kamen im Kampfanzug durch das Fenster im ersten Stock und
beschlagnahmten das Archiv.
Am Dienstag morgen führt uns der Besuch des Bloody Sunday Trust in der Shipquay
Street in Derrys wunderschönem Zentrum zurück zu den Anfängen der blutigen
Auseinandersetzung der letzten dreißig Jahre. Nur ein paar Schritte sind es von
hier zur Guildhall, dem Rathaus, in dem die neu eingesetzte
Untersuchungskomission tagt, die die Ereignisse vom 30. Januar 1972, der als
Bloody Sunday in die Geschichte eingegangen ist, neu untersucht. 14
unbewaffnete Teilnehmer einer Bürgerrechtsdemonstration wurden von einer Spezialeinheit
des britischen Militärs, den Paratroopers, an diesem Tag erschossen. Die kurz
danach eingesetzte Untersuchungskomission unter Lord Widgery erfüllte ihren
Zweck: in kürzester Zeit machte sie die Opfer zu Tätern, deklarierte die Morde
als Verteidigung gegen bewaffnete Terroristen. Lord Widgery machte damit den
zehntausenden Demonstranten, die für zivile Rechte, Gleichheit und bessere
Lebensbedingungen, gegen Willkür, Internierung und Sondergesetze auf die
Strasse gegangen waren, klar, dass die vereinigte Staatsgewalt aus britischer
Regierung und unionistischen Machthabern Proteste der irisch nationalen,
republikanischen, katholischen Minderheit mit allen Mitteln zu unterdrücken
suchte. Eine Graffiti ziert die Stadtmauer von Derry: "where the law-makers are
the law-breakers there is no law" (wo die Gesetzgeber die Gesetzesbrecher sind,
existiert kein Gesetz). Bloody Sunday, die staatliche Gewalt und schlimmer noch
die arrogante Legitimation der Morde war neben den blutigen Pogromen gegen
katholische Viertel in Belfast für viele der bedrückende Beweis, dass
friedliche Proteste sinnlos waren, das Recht und Gerechtigkeit für die
katholische Minderheit in Nordirland nicht vorgesehen war. Fast dreissig Jahre
lang kämpften die Angehörigen der Opfer um die Wahrheit. Ihnen ist es zu
verdanken, dass mittlerweile unbestritten ist, dass Widgery nichts weiter als
ein großes Lügenmärchen war, in dem unter anderem Aussagen von Soldaten von
Vorgesetzten umgeschrieben wurden. Einer der Angehörigen, John Kelly, führt uns
durch die Ausstellung in den Räumen des Bloody Sunday Trusts, wir sehen Videos
von damals. John berichtet über den Stand der neuen Untersuchung. Viel deutet
darauf hin, dass ein Blutbad geplant war, um die Menschen von der Strasse zu
bringen und einzuschüchtern. Einer der Soldaten hat sich inzwischen bereit
erklärt auszusagen. John erzählt von einer Anhörung in London vor etlichen
Jahren, an der er und andere Angehörige teilnahmen. Die konservative Presse
hatte im Vorfeld die Stimmung gegen die Anwesenheit der "Terroristen" geschürt.
John erzählt, er werde nie den Spießrutenlauf durch den aufgehetzten Mob
vergessen, der sie wüst beschimpfte.
Noch im Januar diesen Jahres, zwei Monate vor der Wiederaufnahme der Untersuchungen, hat die britische Armee einige der Gewehre zerstört, die damals benutzt wurden. Für mich ist dies so eine Art Symbol für
den derzeitigen Prozess der Konfliktlösung in Nordirland. Jedes bisschen an
Wahrheit und an Änderung muss gegen den erbitterten Widerstand der alten
Hardliner durchgesetzt werden, die noch überall in Staat und Armee ihre Posten
haben. Aber auch die Zähigkeit und die Hartnäckigkeit der Angehörigen hat
Symbolcharakter. "Truth, Justice and Healing - Wahrheit, Gerechtigkeit und
Heilung" war das Motto der diesjährigen Bloody Sunday Gedenkveranstaltung. Ohne
Aufarbeitung des Unrechts wird ein Neuanfang nicht möglich sein. Für mich ist
das eines der wichtigen Gründe, warum diese Delegation sich als Schwerpunkt mit
den Opfern staatlichen Terrors befasst. Es gab viel Leid auf allen Seiten, es
gibt Opfer auf allen Seiten. Es gibt aber eine grosse Lüge, die der Lösung des
Konflikts im Weg steht: der britische Staat, seine nordirischen, von Unionisten
beherrschten Organe, wie Polizei und Justiz, habe in diesem Konflikt Recht und
Gerechtigkeit aufrecht erhalten. Auch für den gegenwärtigen Friedensprozess ist
die kolonial arrogante Haltung der britischen Machthaber, im Zweifelsfall
demokratische Entscheidungen schlicht zu ignorieren, eine der größten Gefahren.
... über Belfast ...
In Belfast übernachten wir in einem B&B auf der Falls Road, im republikanischen Teil
von Westbelfast. Man spürt den Aufbruch und mich beeindruckt immer wieder die
Offenheit der Menschen, das Selbstbewusstsein, und die klare Haltung,
Diskriminierung und Unrecht nicht mehr zu akzeptieren. Equality (Gleichheit)
ist eine der zentralen Forderungen der Iren im Friedensprozess und Sinn Fein
ist mit dem Wahlkampfslogan "wir sind keine Bürger zweiter Klasse" zur
stärksten Partei in Belfast geworden.
Ardoyne ist eines der irisch republikanischen Stadtviertel in Nord-Belfast. Auf engstem Raum
leben hier ca. 12000 Menschen, eingekreist von Strassenzügen, die die
probritischen Paramilitärs Ulster Freedom Fighters (UFF) und Ulster Volunteer
Force (UVF) durch Fahnen ihrer entsprechenden Terrororganisationen
markieren. Ardoyne ist wie andere irische Enklaven im Norden Belfasts oft Ziel
von Attacken dieser loyalistischen, probritischen Gangs. Nahezu hundert
Menschen kamen allein in Ardoyne in den letzten dreißig Jahren ums Leben, über
ein Viertel durch britische Soldaten oder die nordirische Polizei RUC. Das Ardoyne
Commemoration Project (ACP) hat sich zur Aufgabe gesetzt zu zeigen, wer
diese Menschen waren, wie sie lebten, diejenigen als Persönlichkeiten zu
würdigen, die bisher nur eine Zahl in einer schrecklichen Statistik waren. Die
Portraits werden in einem Buch zusammengestellt, das voraussichtlich im
Frühjahr 2001 erscheint.
Tom Holland ist einer der Projektgründer und Projektmitarbeiter. Er ist in Ardoyne geboren und
aufgewachsen. Wie alle anderen Projektmitarbeiter arbeitet er seit zwei Jahren
ehrenamtlich an der Umsetzung ihrer Idee. Er erzählt, dass die Interviews, die
die Mitarbeiter des Ardoyne Commemoration Project seit zwei Jahren mit
Angehörigen, Nachbarn, Freunden und Augenzeugen der Morde führen, in vielen Fällen das erste Mal ist, dass jemand nachfragt. Da viele der Täter Polizisten oder Soldaten waren, gingen staatliche
Stellen ohne weitere Untersuchung schnell zur Tagesordnung über. So bekommen
die Interviews manchmal kriminalistischen Charakter, wenn nach Jahrzehnten ein
Augenzeuge zum ersten Mal nach seinen Beobachtungen gefragt wird. Tom erzählt
von der alten Frau, die erschossen wurde, als sie vom Einkaufen nach Hause
ging. Die erste Stellungnahme der Polizei sprach von einem IRA Aktivisten, der
in Notwehr erschossen wurde. Der Polizeibericht wurde dann doch noch einmal
geändert. Zu unwahrscheinlich klingt die Verwechslung einer alten Frau mit einem jungen IRA Mann.
Untersuchungen gab es trotzdem keine. Tom erzählt von dem IRA Mann, den
Soldaten auflauerten und erschossen. Er hatte eine Waffe bei sich, so war der
offizielle Bericht nicht schwer zu schreiben. Wen kümmert es, dass die Waffe
nicht schussbereit war und kein Versuch gestartet wurde, den Mann festzunehmen.
Eine Klage von Angehörigen ermordeter IRA Mitglieder gegen diese Politik der
gezielten Todesschüsse (shoot to kill) wurde mittlerweile vom europäischen
Gerichtshof akzeptiert.
Das Ardoyne Commemoration Project hat sich die Aufgabe gesetzt, allen Opfern die gleiche
Anzahl von Seiten in ihrem Buch zu widmen, um keine Hierarchie der Opfer
einzuführen. Tom erzählt, wie schwierig sich die Umsetzung dieses Vorsatzes in manchen Fällen gestaltet. Wie will man die Persönlichkeit eines Kindes beschreiben, das erst dabei war, sich zu entwickeln. Gibt es noch ehemalige Mitschüler oder Freunde, die Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit haben? Tom
erzählt auch, dass das Interview für viele zum Beginn eines schmerzlichen Prozesses der Aufarbeitung wurde. Denn oft wurde der Verlust der Mutter, des Vaters oder des Kindes schlicht verdrängt. Es
gab zu viele Opfer und keine Zeit zum Trauern in diesem Krieg, den die
Britische Regierung zwar geführt, aber nie offiziell erklärt hat.
Am späten Nachmittag machen wir uns auf den Weg in den loyalistischen (loyal zur
Britischen Krone) Teil Westbelfasts, die Shankill Road. Die bewaffnete Fehde
der rivalisierenden loyalistischen Gruppen UFF und UVF im Bezirk Shankill hat
in den Wochen unmittelbar vor unserer Reise zu drei Toten geführt.
Hunderte Familien wurden von der UFF aus
ihren Häusern im Bezirk Lower Shankill vertrieben. Man sagt, die UFF Einheit,
die diesen Bezirk kontrolliert, ist aktiv im Drogenhandel. Sie hat auch gute
Kontakte zur Polizei. Ihr werden viele der Morde der letzten Jahre an irischen
Republikanern und Katholiken zugeschrieben, immer mehr Beweise für die
Zusammenarbeit zwischen der Polizei RUC und den loyalistischen Killern von der
Lower Shankill UFF kommen ans Tageslicht.
Der Taxifahrer mit dem wir aus dem republikanischen Teil Westbelfasts, wo unser B&B
liegt, Richtung Innnenstadt fahren,
erzählt uns, dass am heutigen Tag zum ersten Mal die von der UVF betriebenen
Taxis Richtung Shankill nicht den direkten Weg nehmen, sondern einen Umweg
durch die republikanische Falls Road, da sich die Taxifahrer im Bezirk Lower
Shankill wegen der Fehde nicht sicher fühlen. Eine kleine Sensation, die das
Weltbild derer durcheinanderbringt, die diesen Konflikt gerne auf das Klischee
Protestanten gegen Katholiken reduzieren.
Wir gehen zu Fuss
Richtung Lower Shankill, neue aggressive Murals und massenweise UFF Fahnen
"Simply the best" machen klar, wer hier das Sagen hat. Die Läden sind
geschlossen, kaum jemand ist auf der Strasse. Das isolierte, kleine katholische Viertel Carrickhill, das zwischen Lower Shankill und Stadtzentrum liegt, wurde die vergangenen Wochen wiederholt
von Loyalisten mit Farbbeuteln und Brechstangen attackiert.
Jim McCabe arbeitet ehrenamtlich für Relatives for Justice, einer Organisation, die von Angehörigen der Opfer staatlicher
Gewalt gegründet wurde. Das Büro liegt auf der Falls Road in Belfast, ein Mural
an der Aussenseite erinnert an all diejenigen, die durch den Einsatz von
Plastikgeschossen durch die RUC, der nordirischen Polizei Royal Ulster Constabulary,
ums Leben kamen. Eines der Opfer war Nora McCabe, Jims Frau. Sie stand vor
ihrem Haus an einem ruhigen Morgen im Juli 1981, als ein gepanzertes Fahrzeug der RUC
vorbeifuhr und einer der Insassen Nora McCabe aus dem Fahrzeug heraus mit einem
Plastikgeschoss ermordete. Ein
kanadisches Filmteam filmte an diesem Morgen in der Nähe. Das Video widerlegte
die Polizeiaussage, die Plastikgeschosse seien zur Bekämpfung von Aufruhr
eingesetzt worden. Es gab keinen Aufruhr. Es war ein ruhiger Morgen, an dem
Nora McCabe ohne geringsten Grund ermordet wurde. Jim erzählt ruhig und
sachlich. Er erzählt, wie überzeugt er damals war, dass das Beweismaterial zu
erdrückend war, um die Sache unter den Teppich zu kehren. Keiner der Polizisten
wurde zur Rechenschaft gezogen für den Mord an Nora McCabe.
Im Falls Women Centre geht es gerade hektisch zu, als wir zum verabredeten Treffen
erscheinen. Eine Viertelstunde später sitzen wir mit Kaffe, Tee und Keksen und
allen gerade anwesenden Frauen um einen Tisch. In lockerer Unterhaltung
beantworten die Frauen gemeinsam unsere Fragen. Das Falls Women Centre existiert in der jetzigen Form seit Anfang
der 80er Jahre, als loser Verbund jedoch schon weit länger. Sehr viel Wert
haben die Frauen von Anfang an auf den Dialog mit den Shankill-Frauen von der
protestantisch unionistischen Seite Westbelfasts gelegt. Kontakte gab es lange
bevor "cross community projects" modern wurden.. Von den Medien wurde das immer
ignoriert, es passt nicht in das Klischee von den verfeindeten Communities. Seit
längerem existiert ein Frauennetzwerk, in dem Frauen aus allen Teilen Belfasts
kooperieren. Zu den Problemen mit denen Frauen in der ganzen Welt konfrontiert
sind, addieren sich im republikanischen Belfast die Probleme, die aus
Diskriminierung und Konflikt resultieren:
am Nachmittag
lernen wir bei Coiste na n’Iarchimi, der Dachorganisation der
republikanischen Ex-Gefangenen, dass während der letzten dreissig Jahre
schätzungsweise 15000 Republikaner zu insgesamt 100000 Jahren Haft verurteilt
wurden. Die Frauen erzählen, dass der Besuch des einstigen Internierungslagers
und späteren Hochsicherheitsgefängnisses Maze, Long Kesh, wie es die
Republikaner nennen, jahrzehntelang zum republikanischen Alltag gehörte.
Genauso wie die Kampagnen für den politischen Status der Gefangenen, gegen
Folter und Diskriminierung. Dazu kam die Schikane, der die Familien ausgesetzt sind. Ein feindlicher Staat
macht das geringste Anliegen an eine Behörde zum Kampf, egal ob es um Wohnung,
Arbeit oder andere Dinge ging.
Eine zentrale
Rolle spielt deshalb die Erziehung zu Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen,
"Steps to Excellence" ist eines der aktuellen Kursprogramme. An
Selbstbewusstsein fehlt es den Frauen nicht, auch nicht im Umgang mit den
eigenen Abgeordneten, die in die Pflicht genommen werden. Auf die Frage, nach
ihrem Verhältnis zu Sinn Fein und den West Belfaster Abgeordneten antworten die
Frauen denn auch lachend, das Verhältnis sei prima, die Abgeordneten könnten
sich gar nicht erlauben, ihre Anliegen zu ignorieren.
Coiste na n’Iarchimi, die als
Dachorganisation die Arbeit vieler lokaler Selbsthilfegruppen republikanischer
Ex-Gefangener koordiniert, gibt es erst seit 1998. Jackie McMullan, selbst
ehemaliger republikanischer POW (prisoner of war, Kriegsgefangener), erklärt
uns die Ziele und Aufgaben von Coiste. Auf republikanischer Seite waren die
letzten dreißig Jahre schätzungsweise 15000 Menschen im Gefängnis. Zu Beginn
der 70er Jahre wurden hunderte ohne
Gerichtsverhandlung interniert, später per Sondergericht, den Diplock-Courts,
im Schnellverfahren abgeurteilt. Die Diplock-Verfahren existieren trotz
Friedensprozess immer noch. Eigentlich ist es selbstverständlich, einen Versöhnungs- und Friedensprozess damit zu beginnen, Sondergesetze, die nichts mit Recht, alles aber mit der Bekämpfung
des Gegners zu tun haben, abzuschaffen und die von ihnen gefällten Urteile zu
annullieren. Coiste na n’Iarchimi arbeitet auf dieses Ziel hin. Das ist
noch ein weiter Weg. Bis dahin sind die ehemaligen Gefangenen vielen Arten von
Diskriminierung ausgesetzt. Von unionistischen Gegnern des Friedensabkommens
wird die Freilassung der Gefangenen demagogisch zum Schüren von Ängsten
missbraucht, für die einzelnen ist es eine gefährliche Sache, außerhalb
republikanischer Viertel Arbeit zu suchen. Die von der Britischen Regierung im
Friedensabkommen zugesagte Integrationshilfe geht bisher nur an staatliche
Organisationen, die sich generell um ehemalige Gefangene kümmern, eine Art
später Kriminalisierung.
Die Black Taxis der "West Belfast Taxi Assoziation" sind das gängige Verkehrsmittel in West
Belfast. Grosse schwarze Limousinen fahren von Castle Street am Rande des
Stadtzentrums die Falls Road hinauf zu
verschiedenen Endhaltestellen in Andersonstown, Whiterock, Poleglass und anderen
West Belfaster Stadtvierteln. Bis zu sechs Leute finden nebst Fahrer Platz.
Eine Fahrt, egal wie weit kostet pauschal 70 Pence, das sind ca. DM 2,- Wer
einsteigen will, winkt einfach dem nächsten Taxi und steigt zu. Die Black Taxis
sind während der Troubles entstanden als republikanische Antwort auf die
Einstellung des Busverkehrs in West Belfast. Inzwischen sind ca. 400 Fahrer und
Fahrerinnen bei der West Belfast Taxi Assoziation beschäftigt. Nach den vielen
Terminen gönnen wir uns ein Sightseeingprogramm der ganz besonderen Art: wir
mieten ein Black Taxi für eine Tour zu den verschiedenen Murals in West
Belfast. Zwei Stunden lang erklärt uns unser Fahrer die verschiedenen Murals
und die damit verknüpfte Geschichte des republikanischen West Belfast. Ganz neu
wiedererstanden ist das (alte) Mural von Bobby Sands an der Wand des neu
renovierten Sinn Fein Büros. Bobby Sands war der erste von 10 Hungerstreikern,
der 1981 starb im Protest gegen den Versuch Thatchers, republikanische
politische Gefangene wie gewöhnliche Kriminelle zu behandeln. "Our
revenge will be the laughter of our children" steht daneben. Bobby Sands
wurde während des Hungerstreiks in einer beispiellosen Solidaritätsaktion zum
Mitglied des britischen Unterhauses gewählt. Aber Respekt vor dem Willen der
irischen Bevölkerung war nicht Thatchers Stärke. Die Beerdigung von Bobby Sands
war mit hunderttausend Menschen die größte, die Belfast je gesehen hat.
... nach South Armagh
Wir verbringen
das Wochenende in Crossmaglen in South Armagh, nicht weit von der Grenze. In
South Armagh kann man überprüfen, wie die Britische Regierung ihren im
Karfreitagsabkommen eingegangenen Verpflichtungen zur Demilitarisierung
nachkommt: durch Rationalisierungsmassnahmen. Alte Teile werden abgebaut,
andere mit moderner Elektronik nachgerüstet. Demilitarisierung kann man das
wahrhaftig nicht nennen. South Armagh ist eine wunderschöne Gegend, stände
nicht fast auf jedem Hügel ein britisches Militärfort. Es wäre ruhig und
beschaulich ohne den andauernden Lärm der Militärhubschrauber. Die Leute sind
sauer und mit recht. Zu Kriegszeiten haben sie weniger Polizei und Militär
gesehen als jetzt, über zwei Jahre nach Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens.
Die trauten sich damals in dieser überwiegend republikanischen Gegend nicht aus ihren
Forts heraus. Dafür patroullieren sie jetzt gleich mehrmals am Tag. Mit
Maschinengewehr im Anschlag, trotz des Friedensabkommens.
Schlussbemerkung
Es war sicher nicht die letzte Reise in den Norden Irlands, die ich organisiert habe. Die Mischung aus einem recht anstrengenden Tagesprogramm und einem nicht weniger anstrengendem Abendprogramm, das uns durch zahlreiche Pubs des Nordens führte, hat sich gut bewährt. So gut, dass für uns alle die gemeinsame Woche viel zu schnell zu Ende ging.
Die Umsetzung des Karfreitagsabkommens in den Kernpunkten, einer neuen Polizei, Abzug der
Britischen Armee und eine gemeinsame auf Gleichheit und gegenseitige Akzeptanz
beruhende Politik, ist noch immer und im Moment wieder stark gefährdet. Es gibt
zu viele im Apparat der britischen Machthaber und der unionistischen Netzwerke,
die von den Troubles profitierten, und wenn es nur die Machtfülle
unumschränkter Herrschaft im Militärbezirk xy war. Meine Hoffnung ist, dem
Leser oder der Leserin durch meinen Bericht vermittelt zu haben, dass die
Menschen in Irland unsere Solidarität brauchen, um Dinge durchzusetzen, die
viele von uns für längst etablierte Standards in Europa halten: Gleichheit, ein
Leben ohne rassistisch oder religiös motivierte Diskriminierung, Achtung vor
der Würde eines jeden Menschen. Wegschauen ist keine Lösung. Dass wir in Europa
diesen Kampf noch längst nicht gewonnen haben, sehen wir auch im eigenen Land.
Und in Nordirland wie hier sind es zwar die rechtsradikalen Horden die
Aufmerksamkeit und Abscheu auslösen, aber viel wichtiger ist der Kampf gegen die Politiker, die diesen fanatischen Rassen- oder Religionswahn fördern und nutzen, um ihr trübes Süppchen zu kochen. Von der irisch-nationalistischen und irisch-republikanischen Bevölkerung im Norden Irlands können wir lernen, uns mit Anstand, Hartnäckigkeit und Phantasie dagegen zu wehren.
Uschi Grandel (uschi@info-nordirland.de)