Nordirland: Konfliktlösung erfordert Wahrheit!

Von Derry ...

Unser offizielles Programm startet am Montag, den 11.9.2000 um 14.00 Uhr in Derry mit dem Besuch des Pat Finucane Centres (PFC). Das PFC hat ein paar Räume im ersten Stock eines alten Hauses oberhalb des Stadtviertels Bogside, bekannt durch Free Derry Corner, die Erinnerung an die Anfangszeit der Troubles, als die Bogside "verbotene Zone" (no go area) für Britische Soldaten und RUC war. Ich arbeite schon seit längerem mit dem PFC zusammen und dies hier ist nicht mein erster Besuch, aber jedes Mal fasziniert mich von neuem, wie effizient die Mitarbeiter und freiwilligen Helfer mit wenig Raum, chronischem Geldmangel und viel Kreativität arbeiten. Einer der Mitarbeiter des Zentrums gibt uns eine Einführung in die Arbeit des PFC, das sich für Menschenrechte und soziale Veränderungen einsetzt. Er erzählt von der Aktionswoche, die das PFC Anfang September zum Jahrestag der Ermordung des Teenagers Peter McBride durch zwei britische Soldaten organisiert hat. Trotz Verurteilung durch ein ziviles Gericht wurden die Soldaten nach kurzer Zeit aus dem Gefängnis entlassen und wieder in die Britische Armee aufgenommen. Im Rahmen der Aktionswoche wurden vor der Guildhall, Derry’s Rathaus, die Umrisse von Peter McBride und anderer Opfer staatlicher Gewalt auf den Platz gemalt, ganz wie in einer kriminalistischen Untersuchung. Protestiert wurde damit gegen ein System, in dem die zuständige Staatsanwaltschaft in den meisten Fällen Unrecht dann nicht verfolgt, die RUC nicht ermittelt, wenn es sich beim Täter um einen britischen Soldaten oder einen RUC Mann handelt. Diese Freibriefe für Britische Armee und RUC sind ein Skandal. Versuche von britischen Medien und unionistischen Politikern, Opfer staatlichen Terrors zu ignorieren und die diskreditierte RUC zu heroisieren, haben dazu geführt, dass viele Opfer staatlicher Gewalt oder ihre Angehörigen, die jahrelang resigniert geschwiegen haben, sich jetzt empört zu Wort melden.
Das PFC berät die Betroffenen, organisiert Kontakte der betroffenen Familien untereinander zum Erfahrungsaustausch. Selbstverständlich haben Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärung einen hohen Stellenwert. Unter anderem führt das PFC eine monatliche Liste von Gewalttaten, die durch religiösen Fanatismus motiviert sind. Die Liste zeigt schonungslos Monat für Monat Attacken loyalistischer, probritischer Gangs. Die Opfer sind Katholiken oder alles, was sie dafür halten. Das PFC besitzt ein Archiv, eine Sammlung von Zeitungsartikeln der letzten Jahrzehnte. Manche Anfragen nach Archivmaterial kommen auf etwas seltsamen Wegen: vor ein paar Jahren überfiel eine RUC-Einheit das PFC. Sie kamen im Kampfanzug durch das Fenster im ersten Stock und beschlagnahmten das Archiv.

Am Dienstag morgen führt uns der Besuch des Bloody Sunday Trust in der Shipquay Street in Derrys wunderschönem Zentrum zurück zu den Anfängen der blutigen Auseinandersetzung der letzten dreißig Jahre. Nur ein paar Schritte sind es von hier zur Guildhall, dem Rathaus, in dem die neu eingesetzte Untersuchungskomission tagt, die die Ereignisse vom 30. Januar 1972, der als Bloody Sunday in die Geschichte eingegangen ist, neu untersucht. 14 unbewaffnete Teilnehmer einer Bürgerrechtsdemonstration wurden von einer Spezialeinheit des britischen Militärs, den Paratroopers, an diesem Tag erschossen. Die kurz danach eingesetzte Untersuchungskomission unter Lord Widgery erfüllte ihren Zweck: in kürzester Zeit machte sie die Opfer zu Tätern, deklarierte die Morde als Verteidigung gegen bewaffnete Terroristen. Lord Widgery machte damit den zehntausenden Demonstranten, die für zivile Rechte, Gleichheit und bessere Lebensbedingungen, gegen Willkür, Internierung und Sondergesetze auf die Strasse gegangen waren, klar, dass die vereinigte Staatsgewalt aus britischer Regierung und unionistischen Machthabern Proteste der irisch nationalen, republikanischen, katholischen Minderheit mit allen Mitteln zu unterdrücken suchte. Eine Graffiti ziert die Stadtmauer von Derry: "where the law-makers are the law-breakers there is no law" (wo die Gesetzgeber die Gesetzesbrecher sind, existiert kein Gesetz). Bloody Sunday, die staatliche Gewalt und schlimmer noch die arrogante Legitimation der Morde war neben den blutigen Pogromen gegen katholische Viertel in Belfast für viele der bedrückende Beweis, dass friedliche Proteste sinnlos waren, das Recht und Gerechtigkeit für die katholische Minderheit in Nordirland nicht vorgesehen war. Fast dreissig Jahre lang kämpften die Angehörigen der Opfer um die Wahrheit. Ihnen ist es zu verdanken, dass mittlerweile unbestritten ist, dass Widgery nichts weiter als ein großes Lügenmärchen war, in dem unter anderem Aussagen von Soldaten von Vorgesetzten umgeschrieben wurden. Einer der Angehörigen, John Kelly, führt uns durch die Ausstellung in den Räumen des Bloody Sunday Trusts, wir sehen Videos von damals. John berichtet über den Stand der neuen Untersuchung. Viel deutet darauf hin, dass ein Blutbad geplant war, um die Menschen von der Strasse zu bringen und einzuschüchtern. Einer der Soldaten hat sich inzwischen bereit erklärt auszusagen. John erzählt von einer Anhörung in London vor etlichen Jahren, an der er und andere Angehörige teilnahmen. Die konservative Presse hatte im Vorfeld die Stimmung gegen die Anwesenheit der "Terroristen" geschürt. John erzählt, er werde nie den Spießrutenlauf durch den aufgehetzten Mob vergessen, der sie wüst beschimpfte.

Noch im Januar diesen Jahres, zwei Monate vor der Wiederaufnahme der Untersuchungen, hat die britische Armee einige der Gewehre zerstört, die damals benutzt wurden. Für mich ist dies so eine Art Symbol für den derzeitigen Prozess der Konfliktlösung in Nordirland. Jedes bisschen an Wahrheit und an Änderung muss gegen den erbitterten Widerstand der alten Hardliner durchgesetzt werden, die noch überall in Staat und Armee ihre Posten haben. Aber auch die Zähigkeit und die Hartnäckigkeit der Angehörigen hat Symbolcharakter. "Truth, Justice and Healing - Wahrheit, Gerechtigkeit und Heilung" war das Motto der diesjährigen Bloody Sunday Gedenkveranstaltung. Ohne Aufarbeitung des Unrechts wird ein Neuanfang nicht möglich sein. Für mich ist das eines der wichtigen Gründe, warum diese Delegation sich als Schwerpunkt mit den Opfern staatlichen Terrors befasst. Es gab viel Leid auf allen Seiten, es gibt Opfer auf allen Seiten. Es gibt aber eine grosse Lüge, die der Lösung des Konflikts im Weg steht: der britische Staat, seine nordirischen, von Unionisten beherrschten Organe, wie Polizei und Justiz, habe in diesem Konflikt Recht und Gerechtigkeit aufrecht erhalten. Auch für den gegenwärtigen Friedensprozess ist die kolonial arrogante Haltung der britischen Machthaber, im Zweifelsfall demokratische Entscheidungen schlicht zu ignorieren, eine der größten Gefahren.

... über Belfast ...

In Belfast übernachten wir in einem B&B auf der Falls Road, im republikanischen Teil von Westbelfast. Man spürt den Aufbruch und mich beeindruckt immer wieder die Offenheit der Menschen, das Selbstbewusstsein, und die klare Haltung, Diskriminierung und Unrecht nicht mehr zu akzeptieren. Equality (Gleichheit) ist eine der zentralen Forderungen der Iren im Friedensprozess und Sinn Fein ist mit dem Wahlkampfslogan "wir sind keine Bürger zweiter Klasse" zur stärksten Partei in Belfast geworden.

Ardoyne ist eines der irisch republikanischen Stadtviertel in Nord-Belfast. Auf engstem Raum leben hier ca. 12000 Menschen, eingekreist von Strassenzügen, die die probritischen Paramilitärs Ulster Freedom Fighters (UFF) und Ulster Volunteer Force (UVF) durch Fahnen ihrer entsprechenden Terrororganisationen markieren. Ardoyne ist wie andere irische Enklaven im Norden Belfasts oft Ziel von Attacken dieser loyalistischen, probritischen Gangs. Nahezu hundert Menschen kamen allein in Ardoyne in den letzten dreißig Jahren ums Leben, über ein Viertel durch britische Soldaten oder die nordirische Polizei RUC. Das Ardoyne Commemoration Project (ACP) hat sich zur Aufgabe gesetzt zu zeigen, wer diese Menschen waren, wie sie lebten, diejenigen als Persönlichkeiten zu würdigen, die bisher nur eine Zahl in einer schrecklichen Statistik waren. Die Portraits werden in einem Buch zusammengestellt, das voraussichtlich im Frühjahr 2001 erscheint.
Tom Holland ist einer der Projektgründer und Projektmitarbeiter. Er ist in Ardoyne geboren und aufgewachsen. Wie alle anderen Projektmitarbeiter arbeitet er seit zwei Jahren ehrenamtlich an der Umsetzung ihrer Idee. Er erzählt, dass die Interviews, die die Mitarbeiter des Ardoyne Commemoration Project seit zwei Jahren mit Angehörigen, Nachbarn, Freunden und Augenzeugen der Morde führen, in vielen Fällen das erste Mal ist, dass jemand nachfragt. Da viele der Täter Polizisten oder Soldaten waren, gingen staatliche Stellen ohne weitere Untersuchung schnell zur Tagesordnung über. So bekommen die Interviews manchmal kriminalistischen Charakter, wenn nach Jahrzehnten ein Augenzeuge zum ersten Mal nach seinen Beobachtungen gefragt wird. Tom erzählt von der alten Frau, die erschossen wurde, als sie vom Einkaufen nach Hause ging. Die erste Stellungnahme der Polizei sprach von einem IRA Aktivisten, der in Notwehr erschossen wurde. Der Polizeibericht wurde dann doch noch einmal geändert. Zu unwahrscheinlich klingt die Verwechslung einer alten Frau mit einem jungen IRA Mann. Untersuchungen gab es trotzdem keine. Tom erzählt von dem IRA Mann, den Soldaten auflauerten und erschossen. Er hatte eine Waffe bei sich, so war der offizielle Bericht nicht schwer zu schreiben. Wen kümmert es, dass die Waffe nicht schussbereit war und kein Versuch gestartet wurde, den Mann festzunehmen. Eine Klage von Angehörigen ermordeter IRA Mitglieder gegen diese Politik der gezielten Todesschüsse (shoot to kill) wurde mittlerweile vom europäischen Gerichtshof akzeptiert.
Das Ardoyne Commemoration Project hat sich die Aufgabe gesetzt, allen Opfern die gleiche Anzahl von Seiten in ihrem Buch zu widmen, um keine Hierarchie der Opfer einzuführen. Tom erzählt, wie schwierig sich die Umsetzung dieses Vorsatzes in manchen Fällen gestaltet. Wie will man die Persönlichkeit eines Kindes beschreiben, das erst dabei war, sich zu entwickeln. Gibt es noch ehemalige Mitschüler oder Freunde, die Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit haben? Tom erzählt auch, dass das Interview für viele zum Beginn eines schmerzlichen Prozesses der Aufarbeitung wurde. Denn oft wurde der Verlust der Mutter, des Vaters oder des Kindes schlicht verdrängt. Es gab zu viele Opfer und keine Zeit zum Trauern in diesem Krieg, den die Britische Regierung zwar geführt, aber nie offiziell erklärt hat.

Am späten Nachmittag machen wir uns auf den Weg in den loyalistischen (loyal zur Britischen Krone) Teil Westbelfasts, die Shankill Road. Die bewaffnete Fehde der rivalisierenden loyalistischen Gruppen UFF und UVF im Bezirk Shankill hat in den Wochen unmittelbar vor unserer Reise zu drei Toten geführt. Hunderte Familien wurden von der UFF aus ihren Häusern im Bezirk Lower Shankill vertrieben. Man sagt, die UFF Einheit, die diesen Bezirk kontrolliert, ist aktiv im Drogenhandel. Sie hat auch gute Kontakte zur Polizei. Ihr werden viele der Morde der letzten Jahre an irischen Republikanern und Katholiken zugeschrieben, immer mehr Beweise für die Zusammenarbeit zwischen der Polizei RUC und den loyalistischen Killern von der Lower Shankill UFF kommen ans Tageslicht.
Der Taxifahrer mit dem wir aus dem republikanischen Teil Westbelfasts, wo unser B&B liegt, Richtung Innnenstadt fahren, erzählt uns, dass am heutigen Tag zum ersten Mal die von der UVF betriebenen Taxis Richtung Shankill nicht den direkten Weg nehmen, sondern einen Umweg durch die republikanische Falls Road, da sich die Taxifahrer im Bezirk Lower Shankill wegen der Fehde nicht sicher fühlen. Eine kleine Sensation, die das Weltbild derer durcheinanderbringt, die diesen Konflikt gerne auf das Klischee Protestanten gegen Katholiken reduzieren.
Wir gehen zu Fuss Richtung Lower Shankill, neue aggressive Murals und massenweise UFF Fahnen "Simply the best" machen klar, wer hier das Sagen hat. Die Läden sind geschlossen, kaum jemand ist auf der Strasse. Das isolierte, kleine katholische Viertel Carrickhill, das zwischen Lower Shankill und Stadtzentrum liegt, wurde die vergangenen Wochen wiederholt von Loyalisten mit Farbbeuteln und Brechstangen attackiert.

Jim McCabe arbeitet ehrenamtlich für Relatives for Justice, einer Organisation, die von Angehörigen der Opfer staatlicher Gewalt gegründet wurde. Das Büro liegt auf der Falls Road in Belfast, ein Mural an der Aussenseite erinnert an all diejenigen, die durch den Einsatz von Plastikgeschossen durch die RUC, der nordirischen Polizei Royal Ulster Constabulary, ums Leben kamen. Eines der Opfer war Nora McCabe, Jims Frau. Sie stand vor ihrem Haus an einem ruhigen Morgen im Juli 1981, als ein gepanzertes Fahrzeug der RUC vorbeifuhr und einer der Insassen Nora McCabe aus dem Fahrzeug heraus mit einem Plastikgeschoss ermordete. Ein kanadisches Filmteam filmte an diesem Morgen in der Nähe. Das Video widerlegte die Polizeiaussage, die Plastikgeschosse seien zur Bekämpfung von Aufruhr eingesetzt worden. Es gab keinen Aufruhr. Es war ein ruhiger Morgen, an dem Nora McCabe ohne geringsten Grund ermordet wurde. Jim erzählt ruhig und sachlich. Er erzählt, wie überzeugt er damals war, dass das Beweismaterial zu erdrückend war, um die Sache unter den Teppich zu kehren. Keiner der Polizisten wurde zur Rechenschaft gezogen für den Mord an Nora McCabe.

Im Falls Women Centre geht es gerade hektisch zu, als wir zum verabredeten Treffen erscheinen. Eine Viertelstunde später sitzen wir mit Kaffe, Tee und Keksen und allen gerade anwesenden Frauen um einen Tisch. In lockerer Unterhaltung beantworten die Frauen gemeinsam unsere Fragen.  Das Falls Women Centre existiert in der jetzigen Form seit Anfang der 80er Jahre, als loser Verbund jedoch schon weit länger. Sehr viel Wert haben die Frauen von Anfang an auf den Dialog mit den Shankill-Frauen von der protestantisch unionistischen Seite Westbelfasts gelegt. Kontakte gab es lange bevor "cross community projects" modern wurden.. Von den Medien wurde das immer ignoriert, es passt nicht in das Klischee von den verfeindeten Communities. Seit längerem existiert ein Frauennetzwerk, in dem Frauen aus allen Teilen Belfasts kooperieren. Zu den Problemen mit denen Frauen in der ganzen Welt konfrontiert sind, addieren sich im republikanischen Belfast die Probleme, die aus Diskriminierung und Konflikt resultieren:
am Nachmittag lernen wir bei Coiste na n’Iarchimi, der Dachorganisation der republikanischen Ex-Gefangenen, dass während der letzten dreissig Jahre schätzungsweise 15000 Republikaner zu insgesamt 100000 Jahren Haft verurteilt wurden. Die Frauen erzählen, dass der Besuch des einstigen Internierungslagers und späteren Hochsicherheitsgefängnisses Maze, Long Kesh, wie es die Republikaner nennen, jahrzehntelang zum republikanischen Alltag gehörte. Genauso wie die Kampagnen für den politischen Status der Gefangenen, gegen Folter und Diskriminierung. Dazu kam die Schikane, der die Familien ausgesetzt sind. Ein feindlicher Staat macht das geringste Anliegen an eine Behörde zum Kampf, egal ob es um Wohnung, Arbeit oder andere Dinge ging.
Eine zentrale Rolle spielt deshalb die Erziehung zu Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, "Steps to Excellence" ist eines der aktuellen Kursprogramme. An Selbstbewusstsein fehlt es den Frauen nicht, auch nicht im Umgang mit den eigenen Abgeordneten, die in die Pflicht genommen werden. Auf die Frage, nach ihrem Verhältnis zu Sinn Fein und den West Belfaster Abgeordneten antworten die Frauen denn auch lachend, das Verhältnis sei prima, die Abgeordneten könnten sich gar nicht erlauben, ihre Anliegen zu ignorieren.

Coiste na n’Iarchimi, die als Dachorganisation die Arbeit vieler lokaler Selbsthilfegruppen republikanischer Ex-Gefangener koordiniert, gibt es erst seit 1998. Jackie McMullan, selbst ehemaliger republikanischer POW (prisoner of war, Kriegsgefangener), erklärt uns die Ziele und Aufgaben von Coiste. Auf republikanischer Seite waren die letzten dreißig Jahre schätzungsweise 15000 Menschen im Gefängnis. Zu Beginn der 70er Jahre wurden hunderte ohne Gerichtsverhandlung interniert, später per Sondergericht, den Diplock-Courts, im Schnellverfahren abgeurteilt. Die Diplock-Verfahren existieren trotz Friedensprozess immer noch. Eigentlich ist es selbstverständlich, einen Versöhnungs- und Friedensprozess damit zu beginnen, Sondergesetze, die nichts mit Recht, alles aber mit der Bekämpfung des Gegners zu tun haben, abzuschaffen und die von ihnen gefällten Urteile zu annullieren. Coiste na n’Iarchimi arbeitet auf dieses Ziel hin. Das ist noch ein weiter Weg. Bis dahin sind die ehemaligen Gefangenen vielen Arten von Diskriminierung ausgesetzt. Von unionistischen Gegnern des Friedensabkommens wird die Freilassung der Gefangenen demagogisch zum Schüren von Ängsten missbraucht, für die einzelnen ist es eine gefährliche Sache, außerhalb republikanischer Viertel Arbeit zu suchen. Die von der Britischen Regierung im Friedensabkommen zugesagte Integrationshilfe geht bisher nur an staatliche Organisationen, die sich generell um ehemalige Gefangene kümmern, eine Art später Kriminalisierung.

Die Black Taxis der "West Belfast Taxi Assoziation" sind das gängige Verkehrsmittel in West Belfast. Grosse schwarze Limousinen fahren von Castle Street am Rande des Stadtzentrums die Falls Road hinauf zu verschiedenen Endhaltestellen in Andersonstown, Whiterock, Poleglass und anderen West Belfaster Stadtvierteln. Bis zu sechs Leute finden nebst Fahrer Platz. Eine Fahrt, egal wie weit kostet pauschal 70 Pence, das sind ca. DM 2,- Wer einsteigen will, winkt einfach dem nächsten Taxi und steigt zu. Die Black Taxis sind während der Troubles entstanden als republikanische Antwort auf die Einstellung des Busverkehrs in West Belfast. Inzwischen sind ca. 400 Fahrer und Fahrerinnen bei der West Belfast Taxi Assoziation beschäftigt. Nach den vielen Terminen gönnen wir uns ein Sightseeingprogramm der ganz besonderen Art: wir mieten ein Black Taxi für eine Tour zu den verschiedenen Murals in West Belfast. Zwei Stunden lang erklärt uns unser Fahrer die verschiedenen Murals und die damit verknüpfte Geschichte des republikanischen West Belfast. Ganz neu wiedererstanden ist das (alte) Mural von Bobby Sands an der Wand des neu renovierten Sinn Fein Büros. Bobby Sands war der erste von 10 Hungerstreikern, der 1981 starb im Protest gegen den Versuch Thatchers, republikanische politische Gefangene wie gewöhnliche Kriminelle zu behandeln. "Our revenge will be the laughter of our children" steht daneben. Bobby Sands wurde während des Hungerstreiks in einer beispiellosen Solidaritätsaktion zum Mitglied des britischen Unterhauses gewählt. Aber Respekt vor dem Willen der irischen Bevölkerung war nicht Thatchers Stärke. Die Beerdigung von Bobby Sands war mit hunderttausend Menschen die größte, die Belfast je gesehen hat.

... nach South Armagh

Wir verbringen das Wochenende in Crossmaglen in South Armagh, nicht weit von der Grenze. In South Armagh kann man überprüfen, wie die Britische Regierung ihren im Karfreitagsabkommen eingegangenen Verpflichtungen zur Demilitarisierung nachkommt: durch Rationalisierungsmassnahmen. Alte Teile werden abgebaut, andere mit moderner Elektronik nachgerüstet. Demilitarisierung kann man das wahrhaftig nicht nennen. South Armagh ist eine wunderschöne Gegend, stände nicht fast auf jedem Hügel ein britisches Militärfort. Es wäre ruhig und beschaulich ohne den andauernden Lärm der Militärhubschrauber. Die Leute sind sauer und mit recht. Zu Kriegszeiten haben sie weniger Polizei und Militär gesehen als jetzt, über zwei Jahre nach Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens. Die trauten sich damals in dieser überwiegend republikanischen Gegend nicht aus ihren Forts heraus. Dafür patroullieren sie jetzt gleich mehrmals am Tag. Mit Maschinengewehr im Anschlag, trotz des Friedensabkommens.

Schlussbemerkung

Es war sicher nicht die letzte Reise in den Norden Irlands, die ich organisiert habe. Die Mischung aus einem recht anstrengenden Tagesprogramm und einem nicht weniger anstrengendem Abendprogramm, das uns durch zahlreiche Pubs des Nordens führte, hat sich gut bewährt. So gut, dass für uns alle die gemeinsame Woche viel zu schnell zu Ende ging.
Die Umsetzung des Karfreitagsabkommens in den Kernpunkten, einer neuen Polizei, Abzug der Britischen Armee und eine gemeinsame auf Gleichheit und gegenseitige Akzeptanz beruhende Politik, ist noch immer und im Moment wieder stark gefährdet. Es gibt zu viele im Apparat der britischen Machthaber und der unionistischen Netzwerke, die von den Troubles profitierten, und wenn es nur die Machtfülle unumschränkter Herrschaft im Militärbezirk xy war. Meine Hoffnung ist, dem Leser oder der Leserin durch meinen Bericht vermittelt zu haben, dass die Menschen in Irland unsere Solidarität brauchen, um Dinge durchzusetzen, die viele von uns für längst etablierte Standards in Europa halten: Gleichheit, ein Leben ohne rassistisch oder religiös motivierte Diskriminierung, Achtung vor der Würde eines jeden Menschen. Wegschauen ist keine Lösung. Dass wir in Europa diesen Kampf noch längst nicht gewonnen haben, sehen wir auch im eigenen Land. Und in Nordirland wie hier sind es zwar die rechtsradikalen Horden die Aufmerksamkeit und Abscheu auslösen, aber viel wichtiger ist der Kampf gegen die Politiker, die diesen fanatischen Rassen- oder Religionswahn fördern und nutzen, um ihr trübes Süppchen zu kochen. Von der irisch-nationalistischen und irisch-republikanischen Bevölkerung im Norden Irlands können wir lernen, uns mit Anstand, Hartnäckigkeit und Phantasie dagegen zu wehren.

Uschi Grandel (uschi@info-nordirland.de)