Nach langen Verhandlungen, in denen Sinn Féin drohte, die nordirische Regionalregierung zu verlassen, stimmte am
5. Februar auch die DUP der Unterzeichnung des Hillsborough Castle Agreements zu, das die übergabe der Verantwortung
für Polizei und Justiz in Nordirland von London nach Belfast für den 12. April 2010 festlegt.
Sinn Féins nationaler (irlandweiter) Generalsekretär DECLAN KEARNEY erklärt in folgendem Artikel, was das
Hillsborough Castle Agreement zwischen Sinn Féin, DUP, britischer und irischer Regierung bedeutet:
für den Friedensprozess, für die Demokratisierung Nordirlands und für das republikanische Projekt eines vereinigten
Irlands, mit einer gerechten Gesellschaft, in der "alle Kinder der Nation gleichermassen geachtet werden", wie es in der
Proklamation des Osteraufstandes 1916 heisst. Das Foto zeigt Declean Kearney (links) im November 2009 als Sprecher der
Gedenkveranstaltung für zwei junge IRA-Männer, Henry Hogan und Declan Martin, die im Februar 1984 im Kampf gegen die
britische Armee in Nordirland getötet wurden.
"Hillsborough nutzen,
um Spielregeln zu ändern"
>>>> An Phoblacht - Sinn Féin Wochenzeitung (in Englisch), 18. Februar 2010
Wir müssen alle Aktivitäten von Sinn Féin, Verhandlungen eingeschlossen, immer wieder daran messen, in welcher Weise
sie die republikanische Strategie, und ihre nationalen und demokratischen Ziele unterstützen. Oder kurz gesagt, ob sie
die öffentliche Meinung überzeugen, unsere Basis stärken oder im breiteren politischen Kontext für ein vereinigtes
Irland arbeiten.
In der letzten Verhandlungsrunde lag mehr als ein Schuss Ironie, weil das Hillsborough Castle Abkommen (HCA)
ausgerechnet in Hillsborough Castle verhandelt und verkündet wurde, einem Ort, der lange Zeit Synonym für britische
Herrschaft und die Teilung Irlands war. (Nachdem die britische Regierung in den zwanziger Jahren
des letzten Jahrhunderts den Nordosten Irlands als Kunststaat Nordirland von Irland abspaltete, war für viele Jahrzehnte
der Sitz ihres Gouverneurs "Hillsborough Castle". Mit dem Karfreitagsabkommen wurde 1998 dieses alte koloniale
Herrschaftsinstrument beseitigt.)
Sinn Féin’s Fähigkeit, erfolgreiche Verhandlungen zu führen, war immer direkt proportional zur allgemeinen politischen
Stärke der republikanischen Bewegung. In diese Verhandlungen gingen wir in der Tat sehr gestärkt. Denn schon vor
Jahresanfang hatte ein Großteil der Bevölkerung in den irischen Vierteln erkannt, dass die politische Situation im
Norden Irlands ernsthaft gefährdet war. Ein Beben ging durch die politischen Institutionen, verstärkt durch die Weigerung
der DUP, Gleichheit und Partnerschaft zu akzeptieren, und verursacht durch die Weigerung der DUP und der britischen wie
der irischen Regierung, das Karfreitagsabkommen (1998) und das St. Andrews-Abkommen (2006) umzusetzen.
Einen Nerv getroffen
Als der Termin für die Januar-Verhandlungen näherkam, stand der ärger in den irisch-republikanischen Vierteln kurz vor dem
Siedepunkt. Grund war die Unnachgiebigkeit und neue Vorbedingungen der DUP und unkontrollierte Einflussnahme aus dem NIO
(dem britischen Nordirlandministerium), die an alte Zeiten erinnerten. Vor allem diejenigen, die den alten unionistischen
(pro-britischen) Einparteienstaat und die "B-Men" (eine paramilitärische anti-irische
Polizeisondereinheit, die sich durch besondere Brutalität auszeichnete und durch einen anti-irischen und
anti-katholischen Rassismus, der in Nordirland als "Sectarianism" bezeichnet wird) noch miterlebt hatten, erkannten,
dass dies nichts anderes war als der alte ungebrochene unionistische Sectarianism.
Vor diesem Hintergrund traf Sinn Féin’s Verhandlungsstrategie einen Nerv. Sie fand die Zustimmung der normalen Leute,
der Befürworter eines vereinten Irlands und der Demokraten, sowohl in Nordirland wie auch Irlandweit. Und
Meinungsumfragen, Zuschauermeinungen und andere Indikatoren zeigten, dass auch ein signifikanter Teil der unionistischen
Wählerinnen und Wähler die Rückgabe der Verantwortung über Polizei und Justiz nach Nordirland als vernünftig und
sinnvoll ansehen. Sinn Féin wurde auch als Kraft wahrgenommen, die dem Hardliner-Unionismus und britischer
Komplizenschaft die Stirn bot. Die SDLP hatte nichts zu bieten.
Der Fokus der Partei lag auf Gleichheit, Partnerschaft und Demokratie; auf der ausstehenden übergabe der Verantwortung
für Polizei und Justiz von London an Belfast und weitere ausstehende Themen aus dem Karfreitagsabkommen und dem
St. Andrews-Abkommmen, wie zum Beispiel die irische Sprache und die Zusammenarbeit des Nordens (6 Grafschaften) mit
dem Süden (26 Grafschaften).
Die DUP wollte Paraden (der Oranierorden) diskutieren. Sinn Féin ist solchen Diskussionen noch nie aus dem Weg gegangen.
Aber die DUP machte daraus eine Vorbedingung. Das war ein politischer Fehler. Sie versuchten, stellvertretend für die
Oranierorden, eine Auflösung der Paradenkomission zur Vorbedingung zu machen, den Zeitpunkt der übergabe der
Verantwortung für Polizei und Justiz damit zu verknüpfen und dadurch die Forderung der Oranierorden durchzusetzen,
durch die Garvaghy Road (in Portadown) zu marschieren. Das war eine unhaltbare Position, weil es keine Unterstützung
in der Bevölkerung für eine solche Vorbedingung gab.
Inzwischen ist der Zeitpunkt für die übergabe der Verantwortung für Polizei und Justiz auf den 12. April festgelegt und
ein Prozess wurde initiiert, um durch lokale Gesetzgebung bessere Rahmenbedingungen für die Beurteilung und
Beaufsichtigung von Paraden zu finden, die das Recht der Anwohner beschützen, frei von "sectarian harassment"
(anti-irische oder anti-katholisch motivierten Hassparaden) zu leben. Im Ergebnis heisst dies, dass sowohl Polizei und
Justiz , wie auch die Paradengesetzgebung in Kürze durch lokale, demokratisch verantwortliche Strukturen kontrolliert
werden. Und das mit breitem Konsens der unionistischen Bevölkerung. Andere Prozesse werden aufgesetzt werden, um
die Funktionsweise der Institutionen, die Exekutive eingeschlossen, zu überarbeiten; ein politischer Kontext wurde
festgelegt, in dem die Rechte der irisch Sprechenden und die Zusammenarbeit von Nordirland mit dem Süden behandelt werden.
Gut für alle
Natürlich sind Verhandlungsergebnisse eine Sache. Es wird nochmal ein ganzes Stück Arbeit kosten, diese Entscheidungen
und Prozesse so umzusetzen, dass sie als Brückenköpfe für weitere Veränderungen dienen. Das muss der nächste Fokus für
Republikaner sein. Das Hillsborough Castle-Abkommen (HCA) wird gut für alle Bürgerinnen und Bürger sein, gleichermassen
für Unionisten wie für irische Nationalisten in den sechs Grafschaften (Nordirland) - nicht zuletzt deshalb, weil
die DUP sich endlich beteiligt hat und ihre Zustimmung gegeben hat. Denn erinnert Euch, sie lehnten das
Karfreitagsabkommen ab und versuchten, sich vom St. Andrewas-Abkommen zu distanzieren. Deshalb bietet das HCA die
Chance, Politik zu stabilisieren und mit den Institutionen Nordirlands vernünftig in einem gesamtirischen politischen
Kontext zu arbeiten, so wie es das Karfreitagsabkommen vorsah. Auch das ist ein Teil der grossen Veränderung.
Die wirklich hohe Priorität für Republikaner ist es, das Hillsborough Castle-Abkommen zu benutzen, die Spielregeln
zu verändern, um unsere nationalen und demokratischen Ziele, und die Unabhängigkeit, zu verfolgen. Und parallel dazu
einen Prozess der positiven Entwicklung unserer Arbeitsbeziehung mit den unionistischen Parteien zu haben. Das müssen
wir sehr gezielt angehen.
Seit das Abkommen verkündet wurde, gab es in der DUP auch ablehnende und ambivalente Stimmen, hauptsächlich
Gregory Campbell und Nigel Dodds. Das wundert keinen. Einige aus der DUP Führung werden das Abkommen ehrlich umsetzen
wollen, andere nicht. Das hat zwei Ursachen, zum einen mangelndes Selbstvertrauen, zum anderen eine in ihrer Partei
schwelende Opposition zur Teilung der Macht. Das wiederum liegt am derzeitigen verwirrten Zustand des politischen
Unionismus und der Rivalität zwischen den verschiedenen unionistischen Parteien.
Republikaner sollten sich nicht durch Versuche, das Abkommen nut teilzuerfüllen oder zu unterminieren, ablenken lassen.
Diejenigen Unionisten, die das versuchen, mit oder ohne Duldung des NIO, werden am Schluss von der Bevölkerung die
Konsequenzen zu spüren bekommen.
Neue Verhandlungen werden keine Rückwärtsverhandlungen weg vom HCA sein, sondern vielmehr Startpunkt für republikanische
Forderungen nach mehr Rechten, mehr Veränderung und schnellerer Umsetzung.
Irreversible Veränderungen
Auch wenn die politische Veränderung nur scheibchenweise kommt, ist sie irreversibel. Die Elemente des HCA, die die
lokale, demokratische Verantwortlichkeit stärken, sind eine neue Grundlage für politische Stabilität der Institutionen
im Norden. Darauf aufbauend werden wir die politische Zusammenarbeit zwischen dem Süden und dem Norden stärken und
ausweiten, die grenzübergreifende Harmonisierung von Gesetzen anstreben, so dass eine gesamtirische Agenda Gestalt
annimmt, die der Bevölkerung nutzt.
Die Aussicht auf Stabilität und die Möglichkeit, in den Institutionen wirklich zu arbeiten, ist eine wichtige
politische Verpflichtung für alle Parteien. Sinn Féin wird weiterhin diese Herausforderung annehmen, wir werden mit
Nachdruck unsere Gleichheits-Agenda verfolgen und daran arbeiten, dass die Institutionen nun für alle Bürgerinnen
und Bürger da sind. Der politische Fortschritt und voraussichtliche Prozess, der sich in Bezug auf das Ende
kontroverser Oraniermärsche abzeichnet, muss von Sinn Féin genutzt werden, um die Anstrengungen zu intensivieren,
alle Formen des Sectarianism auszulöschen. Diese spezielle Herausforderung muss einhergehen mit einer neuen
Bereitschaft von Republikanern, auf die unionistische Bevölkerung zuzugehen und Gemeinsamkeiten zu finden.
Politische Verhandlungen in den sechs Grafschaften können nicht mechanisch in politische Erfolge im Süden umgemünzt
werden, aber die Umsetzung des HCA muss aus nationaler Perspektive erfolgen. Die zentrale Rolle von Sinn Féin muss
herausgestellt werden, um das Profil der Partei, ihre politische Glaubwürdigkeit und Bedeutung in den 26
Grafschaften zu stärken.
Aus den Verhandlungen ergibt sich auch eine neue Möglichkeit für den Dialog mit den Republikanern, die dem
Friedensprozess feindlich gegenüberstehen, und auf junge Nationalisten zuzugehen, die anfällig für die Verlockungen
der Militaristen sind. Wir sollten das HCA benutzen, um zu demonstrieren, dass Sinn Féin’s politische Strategie einen
gangbaren Weg zu einem vereinten Irland darstellt. Und als Anstoß für stärkere Kampagnen an allen politischen,
ökonomischen und kulturellen Fronten.
Neue Möglichkeiten
Ja, das HCA hat einmal mehr die strategischen Möglichkeiten des irischen Republikanismus vergrössert. Es kann
Katalysator für neue politische Räume, neue Kämpfe und neue Möglichkeiten sein. Aber nur, wenn Republikaner dafür
sorgen.
Das positive Moment, mit dem das HCA in der republikanischen und nationalistischen Bevölkerung begrüßt wurde, muss nun
in die Kampagnen für die kommenden Westminster Wahlen, die Donegal Süd-West Nachwahl und für künftige Dubliner
Bürgermeisterwahlen geleitet werden. Der Rückhalt in der Bevölkerung, den Sinn Féin für ihre Verhandlungsergebnisse
geniesst, muss in wachsende Unterstützung bei den Wahlen übersetzt werden.
Eine noch stärkere Unterstützung in der Bevölkerung, zunehmende politische Stärke und die Entschlossenheit der
Aktivistinnen und Aktivisten im Norden und im Süden, das strategische Potenzial des HCA auszuschöpfen, sowohl innerhalb
wie ausserhalb der politischen Institutionen, wird entscheidend für die kommenden Wochen und Monate sein.
Das HCA ist das Ergebnis einer funktionierenden Strategie. Es war nicht die letzte Verhandlung, weder ein Schlussstrich
noch eine Beilegung des Konflikts: und der republikanische Kampf ist noch lange nicht vorbei ... Aber es eröffnet einen
Einblick, wie die Entlassungsurkunde für die britische Herrschaft in Irland aussehen wird.
übersetzung: Uschi Grandel, http://archiv.info-nordirland.de/, 21. Februar 2010
(Erläuterungen in Klammern)