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September 2009:

Die Kontroverse um Libyen und Grossbritannien und

die Rolle von Staatsterrorismus im Nordirlandkonflikt

Der britische Premierminister Gordon Brown gab Anfang September 2009 bekannt, dass die britische Regierung Familien von Opfern von IRA-Aktionen unterstützt, die Libyen auf Entschädigung verklagen wollen. Grund sind angebliche Waffenlieferung Libyens an die IRA während des Nordirlandkonflikts.

Wir dokumentieren im folgenden die Stellungnahme von Relatives for Justice, einer Organisation aus Belfast, die von Angehörigen von Opfern staatlicher Gewalt im Nordirlandkonflikt gegründet wurde.

Der Präsident der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin, Gerry Adams, greift in seinem Blog leargas die Rolle der britischen Regierung auf. Diese war im Nordirlandkonflikt nicht neutraler Beobachter, sondern Konfliktpartei, die über Jahrzehnte die Taktik der Aufstandsbekämpfung mit allen Mitteln - auch mit Mitteln des Terrors - verfolgte. Der hochdekorierte britische Militärexperte General Kitson beschreibt dies in den 70er Jahren für Irland wie folgt:

'Alles, was eine Regierung und ihre ausführenden Organe tun, um Aufstände zu bekämpfen, muss legitim sein. Das heisst jedoch nicht, dass die Regierung während eines Notstandes im selben gesetzlichen Rahmen handeln muss, der zuvor existierte. Das Gesetz sollte als weitere Waffe im Arsenal der Regierung Verwendung finden. Es ist dann wenig mehr als eine propagandistische Hülle zur Beseitigung unliebsamer Teile der Bevölkerung.'

Den Blog-Eintrag mit vielen konkreten Beispielen haben wir ebenfalls übersetzt. Er findet sich im Anschluss an die Stellungnahme von Relatives for Justice.

Stellungnahme von Relatives for Justice, 8. September 2009

"Die Kontroverse um Libyen zeigt die dringende Notwendigkeit einer umfassenden Wahrheitskommission, in der Opfer und Überlebende aller verschiedenen Ausprägungen politischer Gewalt am Ende Wahrheit, Rechenschaft und Entschädigung erhalten.

Der Libysche Faktor ist nur einer aus einer ganzen Reihe von Themen. Die Angelegenheit ist komplex. Erst vor kurzem wurden Belege dafür gefunden, dass britische Sicherheitskräfte, (der Inlandsgeheimdienst) MI5, (die nordirische Polizei) RUC und (ihre Sondereinheit) Special Branch im Vorfeld über Anschläge informiert waren, die mit diesen Waffen durchgeführt wurden. Sie liessen diese Anschläge jedoch zu, um Agenten zu decken. Viele dieser nicht verhinderten Anschläge hatten den Tod von Polizisten, Polizistinnen, britischen Soldaten und auch von Zivilisten zur Folge. Wo liegt die moralische und juristische Schuld? Viele würden sagen, in Whitehall und Downing Street.

Dazu kommt die Rolle der britischen Regierung und ihrer Geheimdienste bei der Bewaffnung und Anleitung von Loyalisten. Die Dienste führten eine Vielzahl von Agenten, die in mehrfache Morde verstrickt waren. Untersucht werden müssen ebenfalls die bewußten Fehler in Strafverfahren, die Agenten unangreifbar machten und damit die Praxis von Todesschüssen und von Todesschwadronen ermöglichten. Die Doppelstandards und die Verlogenheit in Bezug auf diese Themen sind unerträglich. Gordon Brown sollte die Rolle der britischen Regierung endlich zugeben und eine Wahrheitskommission möglich machen.

Es ist nötig, die Art, die Gründe und den Umfang dieses Konflikts zu untersuchen. Dies kann nur im Rahmen einer unabhängigen und internationalen Wahrheitskommission geschehen.

Wir waren zu diesen Themen in Kontakt mit der Libyschen Botschaft in London. Wir verstehen diejenigen, die derzeit Entschädigung suchen, aber wir hoffen, dass dies im Rahmen einer ordentlichen Untersuchung durch eine unabhängige und internationale Wahrheitskommission erfolgen wird. Bis dahin haben wir die Libysche Botschaft gebeten, Entschädigungszahlungen zurückzuhalten, im Interesse der Wahrheit und Gerechtigkeit all derer, die vom Konflikt in Irland betroffen sind. Bei der Suche nach den wahren Schuldigen ist es eine billige Ausrede, mit dem Finger auf Libyen zu zeigen." ENDS
>>>> Website of Relatives for Justice (e)

Sinn Féin Präsident Gerry Adams: die britische Haltung ist scheinheilig

Die Entschädigung, die Opfer von IRA Aktionen von der Libyschen Regierung wegen angeblicher Libyscher Waffenlieferungen fordern, hat eine Kontroverse ausgelöst. Interessanterweise wurde dabei kaum die unangemessene Haltung der britischen Regierung diskutiert, angesichts der Kriegsverbrechen von Downing Street in Irland so eine Forderung an eine andere Regierung zu stellen oder eine solche Forderung an eine andere Regierung zu unterstützen.

Ich unterstütze Entschädigungen, wenn sie für alle Opfer gelten. Einschliesslich der Opfer staatlicher, britischer Gewaltmaßnahmen und der Zusammenarbeit mit Todesschwadronen. Letzten Montag habe ich mit Downing Street und mit dem britischen Secretary of State Shaun Woodward darüber gesprochen. Ich habe ihnen gesagt, dass es keine Hierarchie von Opfern geben kann, dass alle Opfer Entschädigung verdienen und dass die Haltung von Herrn Brown völlig inkonsistent sei.

Dabei ist die scheinheilige Haltung der verschiedenen britischen Regierungen zu diesem Thema nicht überraschend. Die Rolle des britischen Staates bei der Ermordung von Bürgern in Irland in der jüngsten Geschichte ist gut dokumentiert. Zusätzlich zu den staatlichen Morden bewaffneten britische Geheimdienste unionistische (pro-britische) Paramilitärs, darunter auch die Ulster Resistance, die von der DUP gegründet wurde. Staatliche Stellen lieferten Informationen an diese Gruppen, die für zahllose Morde benutzt wurden.

All das war Teil der von der britischen Regierung vorgegebenen Politik, die ihren Ursprung im Verhalten Großbritanniens in anderen Konflikten hatte. Die Taktik, die im Falle von "Collusion" - der Zusammenarbeit mit Todesschwadronen - angewandt wurde, stammt aus der britischen Erfahrung ihrer kolonialen Kriege in anderen Ländern. Aber erst die Schriften und die Arbeit des Brigadiers (und späteren Generals Sir) Frank Kitson passten diese Taktik an Irland an. Kitson war einer der ausgewiesenen Experten der britischen Armee bei der Aufstandsbekämpfung. Er argumentierte für den Einsatz von Todesschwadronen und die Korrumpierung der Justiz:
'Alles, was eine Regierung und ihre ausführenden Organe tun, um Aufstände zu bekämpfen, muss legitim sein. Das heisst jedoch nicht, dass die Regierung während eines Notstandes im selben gesetzlichen Rahmen handeln muss, der zuvor existierte. Das Gesetz sollte als weitere Waffe im Arsenal der Regierung Verwendung finden. Es ist dann wenig mehr als eine propagandistische Hülle zur Beseitigung unliebsamer Teile der Bevölkerung.'

In den frühen 70er Jahren töteten die Briten sowohl Katholiken als auch Protestanten und liessen Anschläge, Bombenanschläge eingeschlossen, von Stellvertretergruppen ausführen. Die UDA, die fast 20 Jahre lang eine legale Organisation blieb, und die UVF führten regelrechte Kampagnen zur Ermordung von Katholiken. Sie erhielten ihre Informationen von britischen Geheimdiensten. Diese Information umfasste Akten, Fotos und Detailinformationen zu Autos und zu Bewegungsprofilen.

Einer der ersten, der vom britischen Geheimdienst rekrutiert wurde, war der Loyalist Brian Nelson, ein ehemaliger britischer Soldat. Zwei Jahre später ernannte ihn die UDA zum Nachrichtenoffizier ihrer West Belfast Brigade. In 1987 wurde er Senior Nachrichtenoffizier der UDA. Der britische Geheimdienst half ihm bei der Aktualisierung seiner Akten. Die Briten bezahlten Nelson £200 pro Woche, sowie das Haus und sein Auto.

Im Sommer 1985 wurde Nelson ins damalige Apartheids-Südafrika geschickt, um Waffen zu kaufen. Zur Finanzierung des Waffenkaufs hatten UDA, UVF und Ulster Resistance die Northern Bank in Portadown ausgeraubt und £325,000 erbeutet. Die Waffenlieferung bestand aus 200 AK47 Maschinengewehren, 90 Browning Pistolen, 500 Splittergranaten, Munition und 12 RPG Raketenwerfern ... In den drei Jahren nach der Lieferung aus Südafrika töteten unionistische Paramilitärs 224 Zivilisten und verwundeten zahllose weitere. Eines der Mordopfer war Pat Finucane, ein Menschenrechtsanwalt, der im Februar 2009 in seinem Haus in Nordbelfast erschossen wurde.

Wenn es um Opfer und um Wahrheit geht, gehören alle diese Fakten auf den Tisch. Dieser Blog hat kein Problem damit, von Regierungen Entschädigung zu fordern. Aber das muss die britische Regierung einschliessen. Die Haltung von Gordon Brown ist völlig inkonsistent, aber in Übereinstimmung mit den Spielchen, die London bei diesem wichtigen Thema spielt ...

In Wahrheit ist die britische Regierung in all diesen Fragen Konfliktpartei. Sie war eine der Kriegsparteien in diesem Konflikt und ist keine objektive und neutrale Referenz. Sie kann dies auch nicht sein. Sie kann diese Rolle nicht spielen ...
>>>> Gerry Adams Blog (7. September 2009)
Foto: Gerry Adams, An Phoblacht (10. September 2009)

Übersetzung: Uschi Grandel, http://archiv.info-nordirland.de/, 22. September 2009


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