Irische Wähler weisen Vertrag von Lissabon zurück: wie die Kampagne aufging
Wir haben gewonnen, aber die richtige Arbeit
beginnt erst noch
von EOIN Ó BROIN
Sinn Féin Policy Director
Lisbon Treaty Referendum Campaign
Text und Foto: An Phoblacht, 19. Juni 2008
DAS UNDENKBARE ist eingetreten. Mit hoher Beteiligung und einem deutlichen Vorsprung hat die
‘No’-Kampagne den Vertrag von Lissabon abgelehnt. Die Antworten der Regierung,
beziehungsweise der ‘Yes’-Kampagne und ihrer Partner in der EU rangieren von
gemässigt bis extrem. Die eher abstrusen Ermahnungen von Leuten wie Fine Gael
MEP Gay Mitchell, seines deutschen EPP Kollegen Elmer Brock und des sozialdemokratischen
deutschen Aussenministers Frank Walter Steinmeier sollten einfach ignoriert und damit mit der
Verachtung gestraft werden, die sie verdienen.
Die gemässigteren Kommentare von Fianna Fáil Minister Micheál Martin, dem Labour Sprecher
Eamon Gilmore und dem britischen Aussenminister David Milliband geben eine klarere Auskunft darüber,
wie die Dinge sich entwickeln werden. Wie der RTÉ Korrespondent Micheál Lehane am letzten
Sonntag in den RTÉ Nachrichten sagte, trotz des "Kampfgeschreis aus Europa" ist man in Brüssel
der Ansicht, dass es keine "kurzfristige Lösung" geben wird und dass wir einen langen und schwierigen
Prozess vor uns haben.
Niederlage des gesamten politischen und sozialen Establishments
Es ist schon beachtlich, dass das gesamte politische und soziale Establishment besiegt wurde.
(Das Lager der etablierten Parteien) Fianna Fáil, Fine Gael, Labour, die PDs und die
Minister der Grünen Partei wurden von IBEC (Unternehmerverband), ICTU (Gewerkschaft),
ICMSA (Bauernverband) und, wenn auch verspätet, der Irish Farmers’ Association unterstützt.
Sie erhielten die Hilfe grosser Teile der Medienlandschaft, die man nur als völlig parteiisch
beschreiben kann.
Diese formidable Koalition wurde in erster Linie durch eine Allianz progressiver Gruppen geschlagen,
bestehend aus Sinn Féin, der Campaign Against the EU Constitution (CAEUC) – zu der
Sinn Féin gehört – und den Gewerkschaften Unite und TEEU. Auf ihre eigene diplomatische
Art war auch (die grösste Gewerkschaft) SIPTU beteiligt. Sinn Féin war die einzige Gruppe,
die in jedem Wahlkreis existiert und die die Kampagne überall geführt hat. Man kann tatsächlich
feststellen, dass die Wahlkreise mit den höchsten ‘No’-Stimmen diejenigen waren, in denen
Sinn Féin’ am stärksten ist, wie zum Beispiel Dublin North-East oder Donegal.
Trotzdem war die Arbeit aller an der Allianz beteiligten Gruppen wichtig, um das Resultat zu
erzielen. Von enormer Bedeutung waren insbesondere die Beiträge von Joe Higgins (Irish Socialist Party),
dem People’s Movement (gegen einen EU-Superstaat), von PANA (Peace and Neutrality Alliance) und
Afri (Action from Ireland). Dass solch eine Koalition verschiedenster linker Gruppen ohne Streitigkeiten
operierte, ist bemerkenswert und steht in starkem Kontrast zum Zwist innerhalb
der ‘Yes’-Kampagne.
Es ist ausserdem wichtig, die Bedeutung von Libertas anzuerkennen. Während einige Linke deren
Einfluss lieber kleinreden würden, besteht wenig Zweifel, dass die Gruppe eine grosse Zahl an Wählern
überzeugte, den Vertrag zurückzuweisen. Die Gründe waren zum Teil dieselben wie auf der linken
Seite, so zum Beispiel das Defizit an Demokratie, aber sie warben auch mit eher rechten Argumenten,
wie zum Beipiel niedrigen Unternehmenssteuern. Andere Gruppen, wie zum Beispiel Coir
(eine neue Gruppierung des katholischen, rechten Spektrums), standen mit falschen Argumenten am
Rande, hatten aber nur wenig Einfluss, wie auch die Umfragen zeigten.
Die ernsthaften Gruppen der ‘No’-Seite – Sinn Féin und unsere Verbündeten
in CAEUC und natürlich auch Libertas – führten die Kampagne inhaltlich. Wir erklärten den
Text des Vertrags und seine Bedeutung sowohl für Irland als auch für die EU.
Das ‘Yes’-Camp weigerte sich mit Ausnahme weniger Mitglieder der Labour Party
und Fine Gael, sich mit dem Text des Vertrags auseinanderzusetzen. Stattdessen konzentrierten
sie sich auf die Vorteile, die die EU Irland gebracht hat. Als dieser Ansatz schiefzugehen drohte,
verwendeten sie ihre Energie darauf, zum einen einzelne Personen und Organisationen der
‘No’-Seite anzugreifen. Zum anderen versuchten sie, die Menschen mit Schauergeschichten
einzuschüchtern. Irland würde zum Pariah Europas und würde Einfluss, Jobs und ausländische
Investitionen verlieren.
Für mehr Demokratie, weniger Militarisierung
und ein soziales Europa
Am Ende weigerte sich die Bevölkerung, auf Druck einen Vertrag zu akzeptieren, der so
offensichtlich nicht im Interesse Irlands und der Europäischen Union ist.
Die Bedenken gingen in drei Richtungen und hatten eine verblüffende Ähnlichkeit zu den Gründen, mit
denen die Franzosen und Niederländer die EU-Konstitution abgelehnt hatten. Bedenken gab es wegen des immer
grösseren demokratischen Defizits, der Unverständlichkeit des Textes, dem Verlust des (irischen
ständigen) Mitglieds des EU-Rates, ... , Bedenken gegen die Entwicklung einer gemeinsamen EU
Aussen- und Militärpolitik und deren Einfluss auf unsere Neutralität, Furcht wegen des Einflusses des
Vertrags auf die Rechte der Arbeiter, auf öffentliche Dienstleistung und ein soziales Europa.
Es gab auch klare Bedenken gegen zwei Aspekte der Wirtschaftsagenda des Vertrags, nämlich den
Verlust des Vetos in der World Trade Organisation und den Einfluss der Wirtschaftspolitik
auf die sich entwickelnden Länder.
Nachdem das irische ‘No’ den Lissbon Vertrag praktisch ausser Kraft gesetzt hat,
müssen nun all diese Themen addressiert werden. Brian Cowen muss sie seinen EU Kollegen beim
heutigen und morgigen Treffen des Europa-Rats kommunizieren und anfangen, einen neuen Vertrag zu
verhandeln. Die Warnung des Regierungssprechers Pat Carey’s gegen “unrealistische
Erwartungen ” ignoriert die Tatsache, dass das Volk entschieden und die Regierung dies
zu respektieren hat. Sie muss nun handeln, unabhängig von ihrer Sicht der Dinge vor dem Referendum,
und nicht versuchen, die Konsequenzen zu minimieren oder zu umgehen. Wir müssen sicherstellen, dass
die Regierung den politischen Willen zum Handeln findet. Daher ist es die Verantwortung all derer,
die die Kampagne gegen den Vertrag geführt haben, der Regierung zu helfen oder ihr Druck zu machen,
den besseren Vertrag, den die Wähler verlangt haben, zu erreichen.
Wahlbeteiligung und Meinungsumfragen zeigen eine breite Bevölkerungsschicht an ‘No’-Wählern.
Vorwiegend stammen die aus Arbeitervierteln und ländlichen Gebieten, es
waren aber auch auffallend viele junge Leute, Frauen und ein kleiner aber signifikanter Zuwachs
der Gegenerschaft in den Mittelklasseschichten. Trotzdem muss man extrem vorsichtig sein, diese
breite Opposition als Wechsel im Wahlverhalten für die grossen Parteien zu interpretieren.
Die Unterstützung speziell für die beiden Parteien Fianna Fáil und Labour bleibt trotz ihrer
Haltung zum Vertrag konstant.
Obwohl manche das behaupten, befinden wir uns nicht in einer Krise. Wie nach unserer Ablehnung des
Vertrags von Nizza und der Ablehnung der EU-Verfassung durch Franzosen und Niederländer müssen unsere
politischen Führer zurück an den Verhandlungstisch. Diesmal müssen sie endlich die Bevölkerung ernst
nehmen und mit einem Vertrag zurückkommen, der den Forderungen der Bevölkerung gerecht wird:
für mehr Demokratie, weniger Militarisierung, Schutz der öffentlichen Dienstleistungen und der Rechte
der Arbeiter, Förderung eines sozialen Europas und Unterstützung der sich entwicklenden Länder.
Wir haben letzten Donnerstag gewonnen, aber die richtige Arbeit beginnt erst noch.
Übersetzung: Uschi Grandel, http://archiv.info-nordirland.de/, 22. Juni 2008
(Erläuterungen in Klammern)