Daily Ireland, 10. September 2006
Analyse:
Wenn man nichts dagegen hat, Provo genannt zu werden
Die Dissidenten können nie hoffen, nochmals die Dynamik zu erreichen, die die
IRA-Kampagne hatte.
Von Danny Morrison
Als sich die IRA im Dezember 1969 spaltete, richteten die Dissidenten einen
Provisorischen Armeerat bis zu dem Zeitpunkt ein, an dem die Organisation in
einer Versammlung sich neu konstituieren sollte. Diese Versammlung fand im
September 1970 statt, aber zu dem Zeitpunkt hatte sich der Name
"Provisional" oder "Provo" bereits etabliert und wurde, trotz der Abneigung
mancher Veteranen in der Bewegung gegen den Begriff, von den Medien wie auch
von Unterstützern als Abkürzung benutzt.
Die Organisation, die die damaligen Dissidenten verlassen hatten, war
anfänglich froh darüber, "Official IRA" und "Official Sinn Féin" genannt zu
werden, weil diese Beinamen Authentizität und Legitimität suggerierten.
Vor Jahren hatte ich damit nie Probleme, auch wenn ich in Presseerklärungen
und als Redakteur die Benutzung des Begriffs "Provisional" vermied. Die
Leute an der Basis hatten auch keine Probleme damit, unter ihnen waren "Say
Hello to the Provos" und "The Provo Lullaby" extrem populär (man verzeihe
das Adverb).
Im Lauf der Geschichte hat die republikanische Sache mancherlei
Namensänderungen erfahren: United Irishmen, Young Irelanders, Fenians,
Invincibles, IRB und IRA. Der Republikanismus, der militärische wie auch der
politische, erneuerte sich ständig and passte sich veränderten historischen
Bedingungen an.
Und so riefen die unionistischen Pogrome im August 1969 und die nachfolgende
Repression seitens der britischen Truppen eine gewaltsame und nachhaltige
republikanische Antwort hervor. An den Wänden stand: "Out of the ashes of
Bombay Street/ Arose the Provisionals". (Aus der Asche von Bombay Street
erhoben sich die Provisionals.)
Während des Konflikts überstand die IRA alle Angriffe, da sie von den Leuten
unterstützt wurde, unverwüstlich war, sich erneuern konnte und vor dem
Hintergrund einer politischen und konstitutionellen Krise kämpfte. Als die
IRA in den neunziger Jahren zwar unbesiegt war, sich aber ein militärisches
Patt entwickelt hatte, fasste die militärische Führung den sowohl reifen wie
auch mutigen Entschluss zu einem Waffenstillstand und zu Verhandlungen.
Dieser Entschluss veränderte die Dynamik der Politik, sowohl im Norden wie
auch im Süden. Und heute sind Moral und Stimmung unter den Nationalisten gut
trotz des nur langsam vorankommenden Friedensprozesses.
Leute, die sich einmal in der politischen Mitte der republikanischen
Bewegung befanden, entweder bis zur Spaltung über die Frage der Teilnahme an
Wahlen beim Parteitag 1986 oder bis zum Waffenstillstand und
Friedensprozess, bezeichnen Gerry Adams und die republikanische Führung
ständig als "Provisionals".
Man liest dies in ihren Erklärungen. In der Tat sieht man es in fast jeder
Erklärung. Dies ist ein ziemlich infantiler Versuch der Herabsetzung, vor
allem wenn es einem nichts ausmacht, Provo genannt zu werden. Ich kann
verstehen, warum die republikanischen Dissidenten sich darüber empören
‚Dissidenten' genannt zu werden. Schließlich macht es sie unentrinnbar zu
Abweichlern gegenüber einer viel größeren und erfolgreichen republikanischen
Organisation, gegen die sie opponieren. Aber sie können sich nur selbst
dafür verantwortlich machen, dass sie mehr dafür bekannt sind, Sinn Féin
anzugreifen als für ihre Angriffe auf die Briten.
Eine Gruppe mit dem Namen "Continuity IRA" tauchte erst auf, als die IRA
einen Waffenstillstand erklärte. Als diese Gruppe als erstes in ein oder
zwei Hotels im County Fermanagh Bomben legte, übernahm sie anfänglich dafür
keine Verantwortung. Deshalb begannen die Medien, über "republikanische
Dissidenten" zu sprechen, da sie nun mal keinen anderen Namen dafür hatten.
Der Name hat sich festgesetzt: sie sollten darüber hinwegkommen.
Später kündigte sich die Real IRA an. Ein gewisses Maß an Aktivitäten ließ
darauf schließen, dass einige frühere IRA-Mitglieder, die sich irgendwann
nach 1996/97 vom Friedensprozess abwandten, daran beteiligt waren. Wenn es
je eine Organisation gab, die davon besessen war, die republikanische
Führung in Verlegenheit zu bringen, dann war sie es. Wann immer Gerry Adams
die Downing Street besuchen oder Bill Clinton treffen sollte, tauchte in
irgendeiner Stadt im Norden zeitgleich mit solchen Plänen eine Autobombe auf.
Tatsächlich sah es öfter eher nach einer Autobombenkampagne gegen die
republikanische Bewegung als gegen die Anwesenheit der Briten aus, vor allem
da keine oder nur wenige Einheiten der britischen Armee oder der Polizei
angegriffen wurden. Objektiv betrachtet war die Real IRA als Guerrilla
hoffnunglos und planlos; schließlich endete das Ganze mit dem Bombenanschlag
in Omagh, der die Frage nach der Infiltration durch Agenten nach wie vor
aufwirft, tragisch.
Vermutlich sollte eine richtige Warnung durchgegeben werden. Die Bombe wäre
explodiert und hätte ausschließlich Gebäude beschädigt. Die Real IRA hätte
sich daran erfreut, düstere Stimmung und Verwirrung zu verbreiten. Und die
Sicherheitsleute, die die Explosion ermöglichten, hätten die Explosion bei
jeder Gelegenheit benutzt und ausgespielt, um das Karfreitagsabkommen und
die Beteiligung von Sinn Féin am Friedensprozess zu torpedieren.
Aber die Warnung kam nicht durch und die eingangs von der RUC durchgeführte
Untersuchung des Anschlags von Omagh, die die Verwicklung des Geheimdienstes
darin verdecken sollte, wird allmählich entlarvt.
Es ist irgendwie zweideutig, wenn Dissidenten "Ausverkauf" rufen und die
Führer von Sinn Féin als britische Agenten bezeichnen. Woher wissen wir,
dass die Führer der republikanischen Dissidenten keine Agenten sind? Beim
Lesen ihrer Reden frage ich mich oft, wer die Strippenzieher wohl sein mögen.
Nach der Anzahl der Operationen zu schließen, die nicht klappen, scheinen
diejenigen, die bewaffnet aktiv sind, in hohem Maß von Informanten
unterwandert zu sein.
Nach Omagh endeten die Aktivitäten der Real IRA - zumindest für eine Weile.
Vor zwei Wochen erklärte sich die Organisation jetzt für zwei Feuerbomben in
Newry verantwortlich. Auch diesmal wieder eine isolierte Aktion, ein
Nadelstich, allerdings mit hohen Kosten für die Kommune - was nur die
Planlosigkeit der Kampagne deutlich macht. Es gibt keine vergleichbare
Unterdrückung und Brutalität, die die Kampagne der IRA entstehen ließen. Als
wir kämpften, wurden wir von den Leuten unterstützt.
Die Dissidenten können nie hoffen, nochmals die Dynamik zu erreichen, die die
IRA-Kampagne hatte. Heute ist der nationalistische Teil der
Bevölkerung froh, dass der Krieg vorbei ist. Man spürt, dass eine politische
Lösung erreichbar ist und hat Sinn Féin den Vorzug vor der SDLP gegeben.
IRA-Mitglieder kämpften im Norden; sie riskierten ihr Leben, als sie in
England Bomben legten und diejenigen britischen Militaristen und Politiker
angriffen, die für den Krieg verantwortlich waren; IRA-Mitglieder haben in
Europa gekämpft; sie haben Waffen beschafft; sie gingen ins Gefängnis, sie
starben dort oder auf den Straßen oder draußen auf dem Land. Auch viele
tausend Unterstützer - in Irland und anderswo - litten für die
republikanische Sache.
Nun sollte man annehmen, das würde ihnen in gewisser Weise das Recht geben,
eine Strategie gutzuheißen, selbst wenn diese einen Friedensprozess
beinhaltet, der nicht perfekt ist. Aber wenn es nach den Dissidenten geht,
haben sie dieses Recht nicht; die Dissidenten verhalten sich elitär - obwohl
sie keine nennenswerte Zahl von Leuten rekrutieren können. Sie haben keine
Zeitung und Zeitschrift. Sie haben kein Programm. Sie haben keine Analyse
geliefert, weder eine überzeugende noch eine miserable. Ihre Sprecher waren
auffällig wenig beeindruckend und undeutlich in ihren äußerungen. Sie können
nicht einmal eine Versammlung organisieren.
Aber sie sind immer noch frühere Kameraden, die vielleicht sogar einmal "The
Provo Lullaby" sangen! Es kann nicht sein, dass sie alle dieses Gefühl des
persönlichen Hasses hegen - zweifellos die Reaktion auf eine in der
Vergangenheit erfahrene Kränkung - der einige ihrer bekannteren Sprecher zu
motivieren scheint. Falls es Raum für Debatten und Diskussionen, auch
privat, gibt, sollten wir sie führen. Das wäre nie Zeitverschwendung!
Trotz der frühen Entlassung von Gefangenen nach dem Karfreitagabkommen gibt
es immer noch politische Gefangene, im Norden und im Süden; viele von ihnen
sitzen aufgrund von tatsächlichen oder angeblichen Aktivitäten der
Dissidenten. Sie haben das Recht, als politische Gefangene behandelt zu
werden. Die öffentliche Meinung für eine Amnestie zu mobilisieren, wäre
schwierig, solange die entsprechenden Organisationen keinen Waffenstillstand
erklären. Aber die Situation wird sich hierzulande erst normalisieren, wenn
alle politischen Gefangenen frei sind.
Die Aufrichtigkeit jener republikanischen Dissidenten, die glauben, dass die
Strategie der republikanischen Bewegung falsch sei, lässt sich leicht testen.
Lasst die persönlichen Angriffe beiseite und erklärt uns, wie eine
alternative Strategie aussehen soll. Ich glaube nicht, dass es eine gibt.
Aber ich bin bereit zuzuhören.
übersetzung und ViSdP: 24.09.2006
Irlandinitiative Heidelberg (Sib);
Adü: Verbindlich ist das englische Original.