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Staatliche Auftragsmorde

Von Peter Nonnenmacher (London)


April 19, 2003

Britanniens ranghöchster Polizeichef schockiert mit einem Bericht über das gezielte Ausschalten "unbequemer" nordirischer Katholiken.

Bisher tat man solche Behauptungen in Großbritannien gern als IRA-Propaganda ab - dass der britische Staat im Nordirland-Konflikt gezielt nordirische Katholiken ermordet habe. In dieser Woche aber erlebte die Insel-Bevölkerung eine böse Überraschung: Nach langjährigen Untersuchungen sind der ranghöchste Polizeichef des Landes und sein Detektiv-Team zu dem Schluss gekommen, dass Polizei, Armee und Geheimdienste des Vereinigten Königreichs tatsächlich an der Ermordung von Katholiken in der Provinz beteiligt waren.

Mit seinem Bericht, der am Gründonnerstag veröffentlicht wurde und dessen vorab bekannt gewordener Inhalt schon Tage zuvor für Wirbel sorgte, zwingt Londons Polizeipräsident Sir John Stevens seine Landsleute dazu, eines der dunkelsten Kapitel der jüngsten britischen Vergangenheit ins Auge zu fassen. Stevens' Bericht zufolge haben britische Polizisten, Agenten und Militärs protestantischen Killer-Gangs in der Provinz in den 80er und frühen 90er Jahren systematisch geholfen, sich "unliebsamer" katholischer Mitbürger zu entledigen.

Gegen mindestens 20 Beschuldigte soll nun Anklage wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord erhoben werden - unter anderem auch gegen einen der höchsten Offiziere des Landes, Brigadier Gordon Kerr, der zuletzt britischer Miltärattaché in Peking war und gegenwärtig in Irak Dienst tut. Generalstabschef Sir Michael Jackson, der oberste Befehlshaber der britischen Streitkräfte, hat bereits angekündigt, jeder der Betroffenen müsse, so er das Gesetz gebrochen habe, sich vor Gericht verantworten.

Sprecher der irischen Republikaner und Angehörige der Opfer der betreffenden Aktionen fordern weitergehende Untersuchungen, die sämtliche Geheimdienstaktivitäten einbeziehen sollen: Sie glauben, dass die Spur der Täter bis hinauf in die Regierungskreise jener Jahre führt - wiewohl der Stevens-Bericht dafür keine Beweise finden konnte.

Was der Bericht freilich enthüllt, ist ein Bild unheilvoller Verquickung staatlicher Organe und protestantischer Terror-Organisationen während der nordirischen "Troubles". Stevens zufolge ließen die Geheimdienste der Polizei und Armee in der Provinz Mitgliedern loyalistischer Gruppen regelmäßig Informationen über Katholiken zukommen, die als Republikaner oder als republikanische Sympathisanten und damit als legitime Ziele loyalistischer Mordaktionen betrachtet wurden. Die betreffenden Beamten halfen bei der Organisation von Überfällen, lieferten den Tätern Waffen und verschafften ihnen Alibis. Gelegentlich waren sie auch selbst an den Morden beteiligt.

Im Zentrum der Beschuldigungen stehen der "Special Branch" der RUC, der auf Terrorismus-Abwehr spezialisierte Geheimdienst der damaligen Polizei Nordirlands, der Royal Ulster Constabulary sowie die völlig im Dunkeln agierende britische Armee-Abteilung "Force Research Unit" (FRU), deren Befehlshaber Brigadier (damals Colonel) Kerr war. Die FRU unterhielt ein Spitzelnetz von angeblich bis zu 200 Agenten in der republikanischen Bewegung und angeschlossenen Organsationen, die ihr Informationen über IRA- und Sinn-Fein-Mitglieder, aber auch über sonstige "unbeqeme" Katholiken zulieferten.

Während FRU und "Special Branch" mit Hilfe dieses Informationen Angehörige loyalistischer Untergrund-Verbände vor geplanten IRA-Aktionen warnen konnten, vermittelten sie diesen Verbänden umgekehrt Tipps zur "Ausschaltung" vermeintlicher Republikaner. Namen, Adressen und Aufenthaltsorte von Missliebigen, deren Beseitigung die Geheimdienst-Leute wünschten, wurden durch Agenten auf der protestantischen Seite an verbotene Gruppen wie die Ulster Defence Association (UDA) weitergegeben.

Der "erfolgreichste" Agent, Brian Nelson, der vergangenen Samstag starb, wurde beschuldigt, bei mindestens 30 Mordfällen die Finger im Spiel gehabt zu haben. "Viele der Opfer", räumt mittlerweile selbst die staatstreue, konservative Londoner Times ein, "hatten mit Terrorismus nichts zu tun." Der berüchtigtste Fall solcher Beihilfe zum Mord war der Fall des Belfaster Rechtsanwalts Pat Finucane, der 1989 im Kreis seiner Familie von UDA-Leuten mit 14 Schüssen getötet wurde. Finucane war kein IRA-Mitglied, hatte sich aber durch die erfolgreiche Verteidigung von Republikanern bei den Behörden unbeliebt gemacht.

Die Daten des Anwalts waren den Tätern von Brian Nelson übergeben worden. Unter den mutmaßlichen Mördern, fand der Stevens-Bericht heraus, befand sich mindestens ein Armee-Spitzel. Eine der beiden Mordwaffen war aus einer Armee-Kaserne entwendet worden - und wurde nach der Tat von der Polizei an die Armee zurückgegeben, wo man sie unverzüglich zerstörte und als Beweisstück untauglich machte.

Sabotage wies Sir John Stevens aber nicht nur den staatlichen Organen jener Jahre nach. Behinderung seiner eigenen Untersuchungen beanstandete er, als wichtige Unterlagen sich als unauffindbar erwiesen und als in seinem Büro in der Nähe von Belfast ein Feuer ausbrach, von dem man heute annimmt, dass es von Armee-Angehörigen gelegt wurde. Insgesamt liefert Stevens nach der Einschätzung des Nordirland-Experten David McKittrick "die machtvollste öffentliche Kritik, die in drei Jahrzehnten nordirischer Unruhen jemals gegen die Sicherheitskräfte vorgetragen wurde".


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