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Irlands tiefste Wunde

Nach dreißig Jahren wird der Bloody Sunday von Ulster aufgearbeitet - in Filmen und im Tribunal von Derry

Von Peter Nonnenmacher (Derry)

Die britische Armee bereitet ihren Abzug aus Derry vor. Bis Ende nächsten Jahres, verkündete Sir Ronnie Flanagan, der Polizeipräsident der Provinz, werde die Kaserne in Nordirlands zweitgrößter Stadt aufgelöst, würden die Truppen nach England, Schottland, Wales "heimkehren". Im Zuge des nordirischen Friedensprozesses wird die permanente Präsenz der Soldaten nicht mehr für nötig gehalten. Derry, von Briten und Protestanten Londonderry genannt, soll endlich aus dem Schatten seiner unheilvollen Geschichte treten.

Dass dieser Schatten so lange auf Derry lastete und dass die Ankündigung des Kasernen-Abbaus just in diesen Tagen erfolgte, das hat gute Gründe. Auch dass gerade in diesem Januar eine Serie von Filmen und Dokumentarstücken auf britischen Bildschirmen anlief, wie man sie noch vor ein paar Jahren nicht zu produzieren gewagt hätte. Gestern, am 30. Januar, jährte sich zum dreißigsten Mal der Tag, der sich dem irischen Gedächtnis als Umschlagpunkt eines Bürgerrechts-Konflikts in einen blutigen Krieg gegen die Krone eingeprägt hat. Bloody Sunday (wie der Tag später heißen sollte) öffnete die Schleusen zu Terror und Gegen-Terror der Autoritäten.

Bloody Sunday - das war der Tag, an dem britische Fallschirmjäger in Derry dreizehn Bürgerrechts-Demonstranten töteten und weitere dreizehn verwundeten, von denen einer seinen Verletzungen später erlag. Es war der Tag, an dem die Armee ihre "knallharten Männer" nach Derry schickte, um ein Exempel zu statuieren; der Tag, an dem der Aufstand der Katholiken gegen die protestantische Alleinherrschaft in der Provinz mit militärischer Gewalt erstickt werden sollte. Beim Bürgerrechtsmarsch des 30. Januar 1972 im Herzen der zu zwei Dritteln katholischen Stadt wollte London dem brodelnden Kessel im wilden Westen Nordirlands einen Deckel aufdrücken. Stattdessen brachte es Derry im Überdruck zur Explosion. Die Erschießung der unbewaffneten Marschteilnehmer führte zur anschließenden Anwerbung hunderter katholischer Jugendlicher durch die IRA.

Was im Einzelnen damals geschah, wie es zu Bloody Sunday kam und wem genau welche Schuld an den Ereignissen zufiel, das aufzuklären ist Aufgabe eines Tribunals, das derzeit in der Guildhall stattfindet, der alten britischen Zünftehalle Derrys. Vor vier Jahren von Premierminister Tony Blair eingesetzt, ist es zum größten Untersuchungsprozess geraten, den die jüngste britische Geschichte kennt. Seit März 2000 tagt es in der großen Halle des neogotischen Gebäudes, und sein Ende ist vor 2003 nicht absehbar. Mehr als 500 Zeugen hat das Tribunal schon vernommen und plant noch einmal so viele, darunter mehrere hundert Soldaten, anzuhören.

Achtzig Millionen Euro hat das Unternehmen bisher verschlungen, und niemanden würde es wundern, wenn die Endsumme sich aufs Zwei- oder Dreifache belaufen würde. Dutzende von Anwälten arbeiten sich im Auftrag der Armee beziehungsweise der Angehörigen der Opfer durch Berge von Material. Der 65-jährige Lord Saville, einer der ranghöchsten und reformfreudigsten Richter des Vereinigten Königreichs, präsidiert dem Tribunal, mit Unterstützung zweier hoher Ex-Richter aus Kanada und Australien. Gewissenhaft, mit äußerster Geduld und den neuesten Mitteln der Technologie sucht Savilles Tribunal der Wahrheit Schritt für Schritt näher zu rücken. Vorwürfe vor allem aus konservativen Kreisen in Britannien, der Prozess sei zu langwierig und zu kostspielig, nehmen die Richter mit Gleichmut auf.

Was sie vor allem zu vermeiden suchen, ist kurzer Prozess nach Art Lord Widgerys, der 1972 auf Geheiß des Premierministers Edward Heath binnen elf Wochen einen Untersuchungsbericht erstellte, welcher die meisten Zeugenaussagen aus Derry ignorierte, sich fast ausschließlich auf die Aussagen der Soldaten stützte, diese praktisch von aller Schuld reinwusch und einigen der Opfer unterstellte, sie hätten möglicherweise vor der Kundgebung mit Waffen oder Bomben hantiert. Der "Widgery-Report" des damaligen obersten englischen Richters trieb das von den Todesschüssen erschütterte Irland noch weiter in Opposition zu London. Unmittelbar nach dem Bloody Sunday war in Dublin die britische Botschaft in Flammen aufgegangen, hatte sich nationale Empörung in Massenprotesten und Arbeitsniederlegungen entladen. Nach Widgery und nach der Verleihung von Tapferkeitsmedaillen an Bloody-Sunday-Offiziere durch die Königin verfestigte sich das Gefühl, dass "die Briten" keinerlei Interesse an der Aufdeckung der Wahrheit hätten. Bernadette Devlin-McAliskey, die als junge Westminster-Abgeordnete an der Ausrichtung des Bürgerrechts-Marschs in Derry beteiligt war und tags darauf dem britischen Innenminister und "mörderischen Heuchler" Reginald Maudling im Unterhaus zwei historische Ohrfeigen verpasste, zeigt sich noch heute davon überzeugt, dass kein von Großbritannien eingesetztes Untersuchungsgericht "zu einem ehrbaren Schuldspruch gegen diesen Staat fähig" wäre.

Nach den Erfahrungen mit Widgery behalten sich ihre Landsleute in Derry ein Urteil über Savilles juristischen Kraftakt einstweilen vor. Immerhin sind sie beeindruckt von der Ernsthaftigkeit des neuen Tribunals. Selbst Nordirlands Bildungsminister und Sinn-Fein-Chefunterhändler Martin McGuinness, der inzwischen einräumt, zu Bloody-Sunday-Zeiten Vize-Kommandeur der IRA in Derry gewesen zu sein, hat sich bereit erklärt, dem Saville-Tribunal in diesem Frühjahr Rede und Antwort zu stehen. Und wie McGuinness und andere IRA-Leute, denen von London Immunität zugesichert worden ist, wollen sich auch einzelne britische Soldaten an der verspäteten Wahrheitssuche beteiligen und signalisieren "ehrliche Aussagen" über die verhängnisvollen Ereignisse.

Nur Nordirlands Unionisten und ihre diversen Tory-Echos in Westminster klagen über die Wiedereröffnung eines Verfahrens, das sie mit Widgery abgeschlossen glaubten. Was kein Wunder ist; denn seit der Einsetzung des Tribunals sind unter Savilles Mikroskop Dinge sichtbar geworden, die kein gutes Licht auf die früheren Herren Ulsters und ihre Schutzmacht jenseits der irischen See werfen.

Neu aufgetauchte Informationen deuten darauf hin, dass der protestantische Regierungschef der Provinz von 1972, Brian Faulkner, beim damaligen Tory-Premier Heath auf eine militärische Lösung in Derry drang, dass er darauf bestand, dass die Armee mit harter Hand gegen "die Aufständischen" vorgehe und ihnen "eine Lektion" erteile. Heath selbst, so legen weitere Aussagen nahe, habe im kleinen Ministerkreis den Fallschirmjäger-Einsatz angeordnet und der Armee in der Ausführung freie Hand gegeben. Vor einem späteren Militäreinsatz gegen Derrys Katholiken, der so genannten "Operation Motorman", soll der Tory-Premier hohen Offizieren gegenüber sogar angedeutet haben, dass bei einer entsprechenden Aktion "hundert Tote akzeptabel" wären.

Ob sich der Verdacht im Verlauf der Verhandlung erhärtet, dass der Fallschirmjäger-Einsatz "von ganz oben, von der Regierung angeordnet" wurde, wie ein bisher auf Anonymität bestehender Armee-Colonel Lord Saville gesagt hat, muss sich erst noch erweisen. Geschürt worden ist dieser Verdacht immerhin durch zahllose verschwundene Dokumente, durch tausende "verlorener" Armee-Fotografien jenes Tages, durch Fallschirmjäger-Waffen, die auf mysteriöse Weise zu Beginn des Saville-Tribunals zerstört wurden.

Nicht jedermann in Derry glaubt an eine Verschwörung. Selbst für manche Angehörige der Opfer ist es denkbar, dass eine Mischung aus politischer Arroganz und militärischer Hysterie die Katastrophe verursachte. Am Wichtigsten aber ist ihnen, dass Britannien die Unschuld ihrer toten, dreißig Jahre lang verleumdeten Familienmitglieder endlich akzeptiert und zugibt, dass sich die Armee damals nicht gegen einen IRA-Hinterhalt wehrte, sondern ohne Not auf eine Versammlung unbewaffneter Bürgerrechtler schoss.

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Erscheinungsdatum 31.01.2002