Sherry O'Brien ist Amerikanerin und hält sich seit einigen Wochen in Belfast auf. Seit drei Wochen begleitet sie Eltern und Schülerinnen der Holy Cross Grundschule in Ardoyne, deren Weg zur Schule immer noch täglich unter Polizeischutz zum Spiessrutenlauf durch einen Korridor an organisiertem Haß wird.
Ihr folgender Augenzeugenbericht beschreibt eine der vielen Nächte an rassistischer Gewalt, der die Anwohner isolierter irischer Viertel im Norden Belfasts seit Monaten ausgesetzt sind:
Eine Nacht der Gewalt loyalistischer Banden in Nordbelfast
- ein Augenzeugenbericht -
Sherry
O'Brien, am 27. September 2001
Es
gab eine Zeit , als ich noch jung und sorglos war, da spielte ich mit dem
Gedanken, Journalistin zu werden.
Damals
beschloß ich, niemals Journalist werden zu können.
Es
war nicht die Art von Schreiben, die mir vorschwebte. Ich war nur so lange
objektiv bis mir klar war, wie ich über eine Sache wirklich dachte – dann
hatte ich eine feste Meinung. Ich konnte bei Ungerechtigkeit und Leiden nicht
einfach zusehen und NICHT darüber schreiben. Mit Ärger, Engagement und
Überzeugung. Ich konnte nicht einfach "die Story schreiben".
Heute
weiß ich, daß Journalisten in NORN IRON zu den besten
Geschichtenerzählern der Welt gehören. Und die meisten sind außerdem
schamlose Lügner, die ihr Gehalt ohne Gewissen einstreichen.
Laßt
uns diese Sammlung der neuesten Lügen und Propaganda betrachten: zunächst
einmal gab es heute Nacht, wie viele von Euch zweifellos gehört haben, schon
wieder Unruhen in Nord-Belfast.
Hier
ist die offizielle Version der Ereignisse lt. BBC, Radio Ulster, ITV und UTV:
Letzte Nacht ereigneten sich Unruhen, nachdem eine friedliche Protestaktion von Loyalisten in Krawall umschlug.
Der Protest richtete sich gegen die angebliche Entführung eines Mannes aus der Cambria Street. Er wurde einige Tage zuvor von Republikanern überfallen, zu einer naheliegenden Kneipe in einem Einkaufszentrum geschleppt und dort von mehreren Männern gefoltert und geprügelt. Er hatte Glück lebend davon zu kommen.
Der Protest von ca. 300 Loyalisten, die sich in der Cumlin Road sammelten, begann friedlich. Plötzlich jedoch brach Gewalt aus und die Polizei wurde mit Spreng- und Benzinbomben angegriffen.
50
Schüsse wurden auf einen Polizei Landrover abgegeben. 125 Benzinbomben geworfen.
6 Sprengbomben und eine Mischung aus Brand- und Nagelbomben. 9 Plastikpatronen
wurden abgeschossen. 33 RUC Offiziere wurden verletzt und 2 Autos in Brand
gesetzt, als die Polizei versuchte, die Demonstranten von der Brookfield Mill
fernzuhalten.
So
weit so gut? OK.
Und
jetzt das, was passiert ist.... Der Mann, der in der Cambria Street "entführt"
wurde:
Am
fraglichen Tag hatten sich eine Gruppe von Loyalisten, der dieser Mann
angehörte, ausserhalb der Brookfield Mill (eine Ladenpassage mit kleinen
Einzelhandelsgeschäften) versammelt, um sich ihrer regelmäßigen
Freizeitbetätigung, der Bedrohung von Läden innerhalb der Mill, zu widmen.
Dies
ist ein regelmäßiges Vorkommnis, wie ich bereits berichtet habe.
Sie
werfen Brandbomben in den Hof, werfen Feuerwerkskörper über die Mauern,
bedrohen, belästigen und toben. Die Türen der Mill mussten deswegen schon oft
geschlossen und gesichert werden.
Als
die Gruppe an diesem Abend ankam, wurden die Polizei gerufen und die Tore
verschlossen.
Einem
von den Mutigeren der Schlägergruppe gelang es jedoch, über das verschlossene
Tor zu klettern und sich innen herunterfallen zu lassen. Er öffnete das Tor,
das in diesem Fall nicht mit Ketten und Vorhängeschloß gesichert war, und
ließ die anderen hereinstürmen.
Die
Ladenbesitzer kamen aus ihren Geschäften gerannt. Die Sicherheitskräfte der
Mill kamen aus dem Torhaus gerannt. Es kam zum Handgemenge, während dessen die
Loyalisten weiterhin Bomben und Feuerwerkskörper in den Hof warfen, bevor sie
sich schliesslich zurückzogen.
Der
Typ, um den es hier geht, war nicht schnell genug beim Abhauen und wurde
ergriffen. Er kassierte einige Prügel, aber es gelang ihm, sich unter einem
Auto zu verstecken bis die Polizei endlich ankam.
Seine
Schwester verurteilte in den Nachrichten, seine "Entführung"
und den "grundlosen" Angriff auf ihn und forderte eine
öffentliche Untersuchung.
Gut.
Ich hoffe, sie bekommt eine.
Und
jetzt zu den Geschehnissen von gestern Nacht:
Ich
telefonierte gerade mit einem Freund, der einen Laden in der Brookfield Mill
hat. Das war um 18:15 Uhr oder so. Ich erzählte ihm von der angemeldeten
Demonstration der Loyalisten, die um 7 Uhr abends beginnen sollte und fragte ihn,
ob er wirklich dort bleiben müsse. Ich war besorgt, nachdem wir zur Holy Cross
Schule gegangen waren (das ist nur um die Ecke) und war mir sicher, daß es wie
immer Ärger bei der Mill geben würde. Schließlich hatte es bereits mittags
einen Angriff mit Brandbomben gegeben.
Er
sagte mir, daß ihn niemand aus seinem eigenen Geschäft vertreiben könne. Er
hätte einiges zu tun.
"Aber,"
fügte er hinzu, "es sind schon zwei Typen da. Direkt vor dem Haupttor und
wir überlegen, ob wir es schließen sollen."
Während
er das sagte, hörte ich im Hintergrund das Knallen von Feuerwerkskörpern.
"Hör
mal," sagte ich ihm, "das ist es nicht wert. Laß es bis morgen."
"Hör
bloß auf," erwiderte er, "ich bin beschäftigt...."
"Ich
kann sie schon hören" sagte ich
"Das
ist nur Feuerwerk. Und nur zwei von denen."
Und
dann hörte ich einen LAUTEN KNALL!
"DAS
war kein Feuerwerk," sage ich
"Nein,"
sagt mein Kumpel, "Das war eine Bombe."
Während
der nächsten Minuten hörte ich über das Handy, was weiter in der Mill geschah.
Die
Sicherheitskräfte schlossen die Tore. Diesmal sicherten sie sie mit Ketten und
Vorhängeschloß. Ich konnte meinen Freund und die anderen Männer hören, wie
sie herumrannten, um alle Eingänge in den Komplex zu sichern. Mehr Explosionen.
"Leg
auf," sagte ich meinem Kumpel, "Geh' in Deckung und ich rufe Dich in
15 Minuten wieder an.
"OK,"
sagt er.
Um
18:50 Uhr kam der "protestierende" Mob an den Eingangstoren der
Brookfield Mill an.
Sie
wurden von der anwesenden Polizei NICHT zurückgehalten. Sie wurden NICHT daran
gehindert die Mill zu erreichen. Sie waren alle da, direkt vor dem Eingang,
schreiend, warfen Brandbomben und Feuerwerkskörper in den Hof und auf das Dach
und in die Geschäfte.
Um
19:30 Uhr kam ich selbst dort an. Alles was ich jetzt beschreibe, habe ich
selbst gesehen.
Da
waren sie, direkt vor den Eingangstoren, immer noch schreiend und johlend und
immer noch Bomben werfend.
BANG
BANG BOOM! Eine Ulster
Flagge wurde auf dem Tor angebracht. Die von uns, die drinnen waren, hatten sich
im hinteren Teil der Mill versammelt, mit dem Tordurchgang als Deckung. Keiner
von den vorderen Geschäften konnte zu seinem Laden gelangen. Alle hatten ihre
Läden verlassen müssen und sich nach hinten zurückgezogen. Jeder, der dort
geblieben wäre, wäre auf der anderen Seite des offenen, ungeschützten Hofes,
der von ausserhalb der Tore und der Mauern angegriffen wurde, in der Falle
gesessen.
Männer
aus der Gegend schickten Kinder und Jugendliche fort, die sich zu versammeln
begannen. Dann standen wir alle da und beobachteten und warteten.
Die
Menge begann vorwärts zu drücken, rüttelten an den Toren, presste nach vorne.
"Diese
Bastarde werden was versuchen..." warnte einer der Männer auf unserer
Seite. Wir waren sicher, daß sie gleich in den Hof der Mill durchbrechen
würden. Erst DANN griff die Polizei ein und kam von der Crumlin Road herüber.
Sie
kamen zu Fuß, in voller Ausrüstung, mit Landrovern hinter ihnen, und
versuchten die Menge zurückzudrängen. Ich muß hier sagen, daß sie ihr Bestes
gaben, um den Mob zurückzuhalten. Es war wirklich häßlich und ich fürchtete
mich für sie. Das tat ich wirklich.
Die
Demonstranten zogen wirklich nicht friedlich ab.
Sie
griffen die Sicherheitskräfte an und versuchten, sie zu schlagen. Sie warfen
Sprengsätze und Brandbomben mitten unter die anrückenden Polizisten hinein.
Aber allmählich wurden sie die Crumlin Road hinuntergedrängt. Sie versuchten
über eine Seitenstraße, die Mill von hinten anzugreifen, aber vergeblich. Dort
gibt es eine Grenzmauer.
Mein
Freund und ich verließen die Szene um etwa 20:00 Uhr. Es war immer noch übel
in der Crumlin Road. Wir konnten die Explosionen hören, als wir weggingen.
Offensichtlich wurde die Sache im Laufe der Nacht noch schlimmer .
Mein
Kumpel ging heute morgen zur Arbeit.
Er
sagt, die Mill ist voll von RUC Leuten (nordirische Polizei), die Beweise
einsammeln, die Angestellten und die Ladenbesitzer verhören.
Er
sagt, die Mill ist ein einziges Chaos. Der Schaden, der durch die Bomben
verursacht wurde, ist unglaublich. Einige Läden wurden vollständig zerstört.
Mehrere Leute packen Ihre Sachen zusammen, um wegzugehen. Sie halten es nicht
mehr aus. Wer kann das auch schon.
Mein
Kumpel sagt zu mir, "Lieber Gott, Du solltest die Brandbombe hinter meinem
Laden sehen. Sie ist gigantisch. Ich kann nicht glauben wie groß die ist!"
Zum
Glück war der Gang zur Holy Cross Schule heute morgen ruhig.
Es
ist ein mieser Tag. Es schüttet.
Die
üblichen Protestierer waren trotzdem da. Sie waren relativ ruhig, während wir
mit den Kindern vorbeigingen und begannen ihren üblichen Tanz als wir
zurückkamen. Aber keine Brandbomben.
Die
Polizeipräsenz hat sich schon wieder fast verdoppelt. Dieses Mal waren drei
britische SARACENS auf der ersten Straße auf der loyalistischen Seite. Weitere
Briten auf halbem Weg die Straße hoch, an beiden Seiten.
Nord-Belfast
bleibt im Chaos.
Inzwischen
war der Oberbürgermeister heute morgen im Ulster Radio zu hören und
jammerte über die Entwaffnung der IRA. Der ist unglaublich dreist!
Sprich
mir nach – es gibt so etwas wie einen "friedlichen" loyalistischen
Protest nicht.
Unionistisch
- vielleicht.
Aber
Loyalisten in Nord-Belfast protestieren um einzuschüchtern, um zu randalieren,
zu verletzen und zu töten.
Punktum. Und Du kannst mich zitieren.
Übersetzung:
Karen A. Krieger, Stuttgart, 29.9.2001