September 2001
Kommentar
zur Gewalt gegen Grundschülerinnen im Nordbelfaster Stadtteil Ardoyne:
Aufklärung
ist nötig!
Die
schrecklichen Bilder von verängstigten Grundschülerinnen im Nordbelfaster
Stadtviertel Ardoyne, ihren Spiessrutenlauf durch einen Hagel von Steinen,
Flaschen und übelsten Beschimpfungen lassen niemanden kalt. Zurecht stossen
diese Bilder weltweit auf Empörung.
Die
Wirklichkeit zeigen und sie verstehen sind jedoch zwei Dinge. So wird in vielen
Kommentaren auch in Deutschland mit diesen Bildern ein Klischee transportiert,
das nicht nur mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, sondern schlimmer noch,
die Opfer diskreditiert: protestantische Terrorgruppen, die Bomben auf Kinder
werfen seien verwerflich, seien aber Ausdruck des zugrundeliegenden Hasses von
Protestanten und Katholiken. Warum seien ansonsten die Katholiken so
unnachgiebig und bestünden auf dem Weg durch den Vordereingang der Schule ....
Man stelle
sich diese Szene im Südafrika zur Zeit der Apartheid vor. Zu Recht würde sich
kein demokratischer Kommentator finden, der einer schwarzen Mutter in solcher
Situation empfiehlt, doch lieber den Dienstboteneingang zu benutzen.
Wer auf
einen Menschen einprügelt, weil dieser eine andere Hautfarbe besitzt, den
erkennen und bezeichnen wir sofort und zu Recht als einen Rassisten. Anti-irischen
und anti-katholischen Rassismus zu erkennen, fällt hingegen einigen politischen
Kommentatoren schwer. Dem einen wie dem anderen ist jedoch gemein, dass es weder
um den Kampf schwarz gegen weiss, noch um den Kampf Katholiken gegen
Protestanten geht. Es geht um gleiche Rechte. Die Iren in Nordirland weigern
sich, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden.
220
rechtsradikale Angriffe und 3 Morde
In das
Klischee, es handele sich hier um einen religiösen und überdies scheinbar
irrationalen Konflikt, mischt sich vielerorts das Staunen über diesen
unvermittelten Gewaltausbruch. Unvermittelt ist diese Gewalt nicht, aber
totgeschwiegen. Seit Anfang des Jahres, also seit über 8 Monaten wird von der
loyalistischen und rechtsradikal einzustufenden UDA, der Organisation, die die
Bombe auf die Schulkinder der Holy Cross School warf, Gewalt in einem
solchen Ausmaß gegen Menschen organisiert, die die UDA für "katholisch"
hält, dass man dies als Pogrome bezeichnen muss. Über 220 Attentate gab es von
Januar bis August: Brandbomben auf katholische Häuser, Katholiken, die beim
Einkaufen zusammengeschlagen werden, Terror gegen Protestanten, die friedlich
mit Katholiken zusammenleben, drei Morde. In Nordbelfast, in Larne und anderen
Städten, in denen die UDA Einfluss hat.
Einer
dieser Morde geschah im Juli dieses Jahres im Nordbelfaster Stadtviertel
Glengormley. Die UDA ermordete auf offener Strasse einen jungen Mann, der mit
Freunden vor dem Vereinsheim des irischen Sportvereins GAA stand. Sie nahmen an,
er sei Katholik. Das Opfer war ein protestantischer Jugendlicher, der hier mit
seinen katholischen Freunden feierte. Sein bester Freund wurde schwer verletzt.
Am Tag danach hielten hunderte Menschen, Protestanten und Katholiken eine
Mahnwache in stiller Trauer. Ein Ardoyner Anwohner erzählte mir hinterher
bitter: "es sind die Medien, die aus diesem Jungen einen Protestanten
gemacht haben. Als er noch lebte, hat seine Religionszugehörigkeit hier keinen
interessiert."
Schweigende Billigung
Die Gewalt
der UDA, mit der sie sich unter dem Tarnnamen 'Red Hand Defenders' auch für den
Anschlag auf die Schulkinder öffentlich brüstet , ist nur die eine Seite
dieser bedrückenden Medallie. Die andere ist die schweigende Billigung fast
aller führenden Politiker der pro-britischen, unionistischen Parteien, die
wachsweichen, peinlichen Windungen, mit denen der britische Nordirlandminister
Reid und sein oberster Polizeichef ihre Untätigkeit gegen den Terror
umschreiben. Polizeichef Flanagan und Minister Reid weigern sich
hartnäckig, den Waffenstillstand der UDA für beendet zu erklären. Man kann
kaum glauben, dass in dieser ganzen Gewaltwelle der letzten Monate kein
Schuldiger verhaftet wurde. Die Gewalt ginge sehr wohl von der UDA aus, gab der
oberste Polizeichef seit Februar immer wieder widerwillig zu, aber man sei sich
nicht klar, ob dies wohl eher einzelne Gruppen der UDA seien und ob sie wirklich
mit Billigung ihrer Leitung handelten.
Seit ihrer
Enstehung im Jahr 1971 hat die UDA enge Verbindungen zu unionistischen/loyalistischen
Politikern wie dem ehemaligen Innenminister Nordirlands William Craig und zum
Sicherheitsapparat der britischen Armee und nordirischen Polizei (RUC). Es
dauerte über zwei Jahrzehnte, bis die UDA im Jahr 1992 nach Hunderten von
Morden an katholischen Zivilisten verboten wurde.Viele neue und unabhängige
Untersuchungen weisen darauf hin, dass Polizei- und Militär diesen
Todesschwadronen gezielte Informationen und Logistik lieferten. Diese
Verbindungen dürften der Grund für die fehlenden Verhaftungen sein, für das
konsequente Wegschauen, dafür, dass die Polizei, wenn überhaupt, immer zu
spät kommt, und Anwohner zum Teil in Schlafanzügen nachts ihre Häuser gegen
mit Vorschlaghämmern bewaffnete Mordbanden verteidigen müssen.
Der
britische Nordirlandminister Dr. John Reid sprach in einer Stellungnahme von
Barbarei. Er vergaß zu erwähnen, dass diese Barbarei aus dem Rassismus und der
Diskriminierung wächst, auf die der Staat Nordirland gegründet ist. Der Hass
ist organisiert von denen, die Gleichberechtigung der irischen Hälfte der
Bevölkerung verhindern wollen. Die finden sich in vielen staatlichen Stellen,
in den Reihen der probritischen Politiker und Paramilitärs.
Auf
irischer Seite gibt es keine Organisation mit anti-protestantischer Agenda.
Daher gibt es keine organisierten rassistischen Übergriffe von Katholiken auf
Protestanten und Einzeltäter bleiben isoliert. So gedachten auch die vielen
Menschen, die gekommen waren, um am vierten Tag andauernder Belagerung des
Schulwegs die Schülerinnen und Eltern aus Soldarität auf ihrem Weg zu
begleiten, in einer Schweigeminute des protestantischen Jugendlichen, der am
Dienstag zuvor auf seinem Fahrrad von einem Auto angefahren wurde und beim Sturz
ums Leben kam.
Der
Friedensprozess soll und muss den Umbau zu einer demokratischen Gesellschaft
bewältigen. Einige gute Schritte sind getan. Die Toleranz des britischen
Nordirlandministers und der unionistischen Politiker gegenüber der
anti-katholischen Gewaltwelle ist ein herber Rückschlag.
Rassistische Gewalt darf nicht ignoriert werden
Das in
Derry ansässige Menschenrechtszentrum Pat Finucane Centre hat angesichts der
nicht endenden Gewalt gegen die Mädchen der Holy Cross Schule, zu einem Akt der
Soliarität aufgerufen. Das Centre fordert Politiker und Kirchenführer auf
protestantischer Seite auf, die Kinder auf ihrem Schulweg zu begleiten und damit
ein Zeichen zu setzen, dass diese Gewalt gegen Kinder nicht länger toleriert
wird.
Und wir? Es
ist erschreckend und beschämend, dass organisierte rassistische Gewalt mitten
im Europa des Jahres 2001 über Monate totgeschwiegen werden kann. Hinsehen ist
ein erster Akt an Solidarität, das haben auch diese Tage gezeigt:
Öffentlichkeit schützt die Opfer von Rassenhass und zwingt Politiker zum
Handeln.
Uschi
Grandel, Karen A. Krieger für die Save the Good Friday Agreement Coalition
Jutta
Oehring, Würzburg, Mitglied bei Amnesty International
Claudia
Tuemmers für die Irland Gruppe Köln (IGK)
Paul
Stern für die Irlandinitiative Bielefeld
Björn
Eisele für Friends of Sinn Fein (FSF) Bamberg/Lichtenfels
Dagmar
Sattler, Trier
Anita
Heiliger, Dermot O'Connor für die Irlandinitiative Heidelberg
Sabine
Hochhaus, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende, Frankfurt
Ingrid
Sträter, Soest
Irland
Gruppe Omega, Berlin
ViSdP: Uschi Grandel, Holzhaussiedlung 15, D 84069 Schierling, uschi@info-nordirland.de
888 Gewalt gegen Katholiken erreicht Ausmaß eines Pogroms